Essen. In Spitzenpositionen in der Medizin sind Frauen wie Petra Voiß noch immer rar. Sie wird Klinikdirektorin in Essen, für „Integrative Onkologie“.
Die Medizin wird immer weiblicher, mehr als zwei Drittel der Medizinstudierenden sind Studentinnen, gut ein Drittel aller Oberärzte Frauen. Doch Klinikdirektorinnen: sind rar. Petra Voiß wird ab Mai die neue Klinik für Integrative Onkologie an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) leiten. Ein bisschen, sagt die frisch habilitierte Privatdozentin, fühle sie sich tatsächlich wie eine Pionierin. Dabei ist die 52-Jährige ein „alter Hase“ auf dem Gebiet der naturheilkundlichen Begleitung Krebskranker.
Allen onkologischen Patienten, nicht nur jenen mit Brust- und Eierstockkrebs wie bisher, will man künftig ergänzend zur klassischen Therapie naturheilkundliche Verfahren anbieten. Nicht, um ihre Tumoren zu heilen, sondern um sie mental wie körperlich zu stärken oder mögliche Nebenwirkungen der Schulmedizin, etwa einer Chemo, zu lindern. Doch noch ist alles im Umbruch: Erst am 28. April wird die gebürtige Kölnerin, die als Assistenzärztin schon nach Essen kam, ihre Antrittsvorlesung halten; der Chefärztinnensessel ist nicht einmal bestellt und Voiß’ neues Büro im Kellergeschoß des Huyssenstifts wird noch renoviert.
„Ich wollte herausfinden, was wissenschaftlich dran ist an der Naturheilkunde“
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Mit Akupunktur, Phytotherapie, also pflanzlichen Mitteln, Bewegung, Ernährung oder Mind-Body-Medizin, zu der Achtsamkeitstrainings oder Stressbewältigungsstrategien zählen, könne man Enormes bewirken, erklärt Voiß. Sie ist davon überzeugt seit ihrer Kindheit, seit eine Tante schwer erkrankte – und gesundete, als sie sich mit Naturheilkunde befasste und ihre Ernährung umstellte. „Eine andere Tante“, erzählt Voiß, „starb an Brustkrebs. Sie wollte gar nichts von diesen Dingen wissen. Für mich war das ein Grund, der Sache nachzugehen, auch das Motiv, Medizin zu studieren. Ich wollte herausfinden, was wissenschaftlich dran ist an der Naturheilkunde.“ Während des Studiums verbrachte sie deswegen Zeit bei Akupunktur-Spezialisten in Peking, später hospitierte sie zum Thema an der Bostoner Elite-Uni Harvard. Längst ist sie nicht nur Internistin, sondern zudem Ärztin für Naturheilverfahren. Zusammen mit Prof. Gustav Dobos, dem bundesweit ersten Inhaber eines Lehrstuhls für Naturheilkunde, baute sie den Schwerpunkt an den KEM auf. Heute ist er bundesweit einer der „Leuchttürme“.
Dass aus der „Abteilung“ nun eine „Klinik“ und sie sie leiten wird, empfindet Voiß als Wertschätzung, sie ist gerne Vorbild. Ambulant und teilstationär wird man arbeiten, Hilfe zur Selbsthilfe sollen Krebspatienten hier lernen, zum 40-köpfigen Team gehören Psychoonkologen, Familientherapeuten und Ernährungsberater. Mit den Apothekern wird eng zusammengearbeitet. Für jedes eingesetzte Phyto-Therapeutikum etwa gibt es einen „Wechselwirkungscheck“.
Die richtige Ernährung kann die Wirksamkeit einer Chemotherapie deutlich erhöhen
Ihre Aufgabe, sagt die neue Chefärztin, sehe sie auch darin, weiter zu forschen, neue Erkenntnisse in der Praxis umzusetzen und dabei „die Kassen mit ins Boot zu holen“. Vor allem aber will sie Menschen in einer schlimmen Lage helfen. Eine Krebs-Diagnose käme für die meisten „wie ein Erdbeben“ daher. Es sei bekannt, dass man mit Kraft- und Ausdauertraining besser durch eine schwere Erkrankung käme – doch Menschen mit Knochenmetastasen hätten oft Angst vor Bewegung. Man wisse, dass ballaststoffreiche Kost die Wirksamkeit mancher Krebstherapie um das Fünffache erhöhe – aber auch, dass sie einen Blähbauch verursachen könne. „Wir unterstützen die Patienten durch Information, Beratung und Training.“
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Sie selbst wird lernen müssen, wie man eine Klinik leitet. Und ist - aus einer Großfamilie stammend – zuversichtlich, dass es gelingt. Aber an den KEM und ihren 23 Kliniken gibt es mit Prof. Susanne Krege in der Urologie nur eine weitere Direktorin. Bundesweit lag der Schnitt (an Unikliniken) 2022 bei 13 Prozent, ergab die jüngste Erhebung des Deutschen Ärztinnenbundes. Der Verband fordert, den Anteil der Chefärztinnen „deutlich zu erhöhen“, unterstützt eine Frauenquote.
Den Töchtern ein Vorbild: Chefärztin und Dreifach-Mutter
„Frauen haben einen anderen Blick auf die Dinge“, sagt Petra Voiß. Wovon Patienten profitieren würden, männliche wie weibliche. Eine Frau zu unterstützen, die Chefärztin werden wolle und kompetent sei, findet sie darum wichtig und richtig. Ob es dazu einer Quote bedarf? Es fehle vor allem an neuen Konzepten und Ideen, denkt die dreifache Mutter, deren älteste Tochter ebenfalls Ärztin werden will. „Top-Sharing“ hält sie für ein „cooles Modell“: zwei Ärztinnen (oder Ärzte) teilen sich einen Lehrstuhl oder eine Chefarztstelle. „Warum denn nicht?“ Ohne ihren Mann, der inzwischen Rentner und zuhause bei den Kindern sei, hätte sie es auch nicht geschafft, räumt Voiß ein, schon gar nicht in Vollzeit. „Ärztin ist ein toller Beruf, aber ein kräftezehrender. Man arbeitet sehr viel. Es ist wichtig einen Ausgleich zu schaffen und auf die eigene Lebensqualität zu achten.“
Sie selbst erreicht das mit Yoga. Und steht dafür um fünf Uhr früh auf.