Essen. Gut 23.000 Essener Kinder haben psychisch oder suchtkranke Eltern. Eine Aktionswoche rückt sie ins Blickfeld. Wie sich Sucht oft weitervererbt.
Wenn sie nach Hause kommt räumt Lisa auf, bringt die leeren Flaschen weg, lüftet und macht Essen für ihre beiden kleinen Geschwister. Lisa ist zwölf. Sie ist eins der Kinder aus einer suchtbelasteten Familie, die das Essener Jugendamt nun in den Mittelpunkt einer am 13. Februar startenden Aktionswoche rückt. Während der Pandemie sind sie noch unsichtbarer geworden. „Vergessenen Kindern eine Stimme geben“, heißt daher das Motto der bundesweit laufenden Aktion.
Lisa ist kein exotischer Einzelfall: Rund 23.000 Kinder und Jugendliche in Essen wachsen mit Müttern und Vätern auf, die psychische und/oder Suchtprobleme haben. Nur wenden sie sich selten an Erwachsene, sagt die Leiterin des Jugendpsychologischen Instituts der Stadt, Petra Kogelheide. „Die Kinder sprechen fast nie über die Situation in ihrer Familie, aber sie zeigen oft etwas.“ Gut geschulte und sensible Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Kitas und Schulen könnten diese Botschaften erkennen.
Mit Schulschließungen und Distanzunterricht plus coronabedingtem Ausfall von Sport- und Freizeitangeboten sind die Jungen und Mädchen nicht nur aus dem Blick geraten, es fehlte ihnen auch die Entlastung, die diese Fluchten aus dem Familienalltag für sie bedeuten. Für manche wurde der Druck so groß, dass sie selbst den Weg in die Familienberatungsstellen der Stadt fanden. „Vielen Jugendlichen war es während der Pandemie wichtig, persönlich zu kommen“, berichtet Petra Kogelheide. „Sie sagten: ,Ich muss da mal raus.’ Oder: ,Holen Sie mich da raus.’“ Das sei bemerkenswert, da die Kinder ihren Eltern gegenüber sonst sehr loyal seien.
Jugendamt Essen will das Thema Sucht aus der Tabu-Ecke holen
Eine Herausnahme der Kinder sei die Ultima Ratio, das letzte Mittel, betont Jugendamtsleiter Carsten Bluhm, der in seiner Zeit beim Allgemeinen Sozialen Dienst selbst betroffene Familien betreute und glaubt, „dass wir das Thema aus der Tabu-Ecke holen müssen“. Auch, damit sich Mütter und Väter trauten, sich an die Sprechstunden der verschiedenen Träger zu wenden oder an die Familienberatung des Jugendamtes. Das sei auch anonym möglich.
Man könne den Kindern Paten vermitteln, die sich um sie kümmern, mit ihnen Hausaufgaben machen. Oder eine Betreuung organisieren, wenn ein Elternteil im Krankenhaus oder im Entzug sei, erklärt Petra Kogelheide. Manchen Betroffenen gelinge es jedoch nicht, selbst Hilfe zu suchen, sagt Bluhm. „Wir gehen darum mit einer Sprechstunde der Familienberatung in die Psychiatrie und so auf Betroffene zu.“
Gesundheitsamt und Jugendamt vernetzen ihre Arbeit
Das ist auch der Erkenntnis geschuldet, dass die Angebote für psychisch- und suchtkranke Erwachsene und die für ihre Kinder schlecht vernetzt sind – schon weil sie aus unterschiedlichen Töpfen finanziert werden: Da finanziert die Krankenkasse etwa die Therapie der Eltern, und die Jugendhilfe übernimmt die Begleitung der Kinder. „Wir wissen, wie viele Menschen hierzulande an Depressionen leiden; aber nicht, wie viele von ihnen Kinder haben“, sagt die Psychologin Jana Gurk. Sie sitzt für das Jugendamt in der neuen Fachstelle „Elternschaft und seelische Erkrankung“ (ELSE), die vom Gesundheitsamt mit einer Public-Health-Stelle ergänzt wird. Seit November 2021 sorgt ELSE für eine enge Zusammenarbeit der beiden Ämter und entwickelt neue Angebote, die alle Familienmitglieder einbinden. „Wir wollen auch die Eltern ermutigen, zu sagen, dass sie krank sind und Hilfe brauchen.“
Petra Kogelheide weiß aus langjähriger Erfahrung, dass viele der Eltern selbst aus suchtbelasteten Familien stammen. Sie haben als Kinder Gewalt, Vernachlässigung, oft auch Armut erlebt und „das Leid, sich nicht öffnen zu können“. Wie die eingangs beschriebene Lisa hätten sie Verantwortung für kleinere Geschwister übernommen oder sich schuldig gefühlt für das Elend der Eltern. „Manche leiden lebenslang an einem eingeschränkten Selbstwertgefühl, haben schwere soziale Probleme, durchleben depressive Phasen.“
Sucht und psychische Erkrankungen setzen sich über Generationen fort
Während der Aktionswoche ab dem 13. Februar werden Filme und Podcasts vorgestellt, die Sucht aus der Sicht der Kinder darstellen, es gibt eine Fortbildung für Lehrer ebenso wie das Familienberatungstelefon. So wollen Jugendamt und freie Träger auf ihre Angebote aufmerksam machen, die schon jetzt von 3500 Ratsuchenden im Jahr genutzt werden (Stand: 2020) – um zu verhindern, dass Suchtgeschichten von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Bundesweite Aktionswoche für Kinder suchtkranker Eltern
DieCoa-Aktionswoche läuft bundesweit vom 13. bis 19. September unter dem Motto „Vergessenen Kindern eine Stimme geben“. Die Abkürzung Coa steht für children of alcoholics (Kinder von Alkoholikern), die Woche rückt alle Kinder aus sucht- und psychisch belasteten Familien in den Mittelpunkt.
In Essen beteiligen sich zahlreiche Einrichtungen an der Aktionswoche: Caritas-SkF-Essen (CSE), Fachklinik Kamillushaus, Gymnasium Wolfskuhle, Jugendpsychologisches Institut, Kinderschutzbund, Buchhandlung Schmitz Junior, Regionale Schulberatungsstelle der Stadt, Stadtbibliothek, Suchthilfe direkt Essen und Wiese e.V. Das Programm findet sich ab Mittwoch (9.2.), 12 Uhr, auf: www.essen.de/coa
Das Familienberatungstelefon der Stadt ist unter der Nummer 0201-8851033 zu erreichen.