Essen-Freisenbruch. Fehlendes Selbstwertgefühl, große Hemmungen: Um diese abzubauen, hat Frank Crosberger getrunken. Immer mehr. Wie er sich ins Leben zurückkämpfte.
Blickt Frank Crosberger auf seine Kindheit zurück, „so stimmt beinahe jedes Klischee“, sagt der heute 64-Jährige selbst über die Jahre mit einem Vater, der ständig trank und den Sohn prügelte. In einem lieblosen Zuhause aufgewachsen, fasste dieser früh den Entschluss: „So will ich nicht werden“ – und trank dann doch. Heute schaut er auf seinen langen Weg bis zum Leben ohne Alkohol. Genauso hat er die Selbsthilfegruppe genannt, die er nun gegründet hat.
„Mein Vater hat mir den Spitznamen Ratte gegeben und so fühlte ich mich auch“, beschreibt Frank Crosberger sein fehlendes Selbstwertgefühl. Dazu kamen enorme Hemmungen und die Erfahrung, dass aus dem schüchternen Jungen nach dem vierten, fünften Bier ein durchaus geselliger Jugendlicher wurde („dann kam ich in Gang“). Dabei hatte er mit 14 schon dem Alkohol abgeschworen, da war er nach einem Bier und einer Flasche Lambrusco ganz krank geworden. Mit 17 war das vergessen, der Vorsatz egal: „Am Wochenende tranken wir immer.“
In der Ausbildung zum Elektroinstallateur gab es das Bier schon mittags, ab freitags wurde dann ordentlich getrunken, auch Likör wie Persiko – „ein süßes Sauzeug.“ Das hatte genau ein Ziel: sich abzuschießen. Mit billigem Weinbrand und Rum ging es schließlich bei der Bundeswehr weiter, als das Bier allein nicht mehr gedröhnt habe. Dabei hat das durchaus geschmeckt, „das andere war zum Betäuben“, erinnert sich Frank Crosberger, der als Fernmelder viel Zeit und Alkohol immer zur Stelle gehabt habe.
„Das war eine Katastrophe“, sagt er rückblickend, der sich zehnmal geschworen habe, ein halbes Jahr nichts mehr zu trinken, nur um sich anschließend selbst zu beruhigen („geht doch“). Dann aber reichte ein Glas und er hat nicht mehr aufhören können, hat getrunken, bis nichts mehr ging. Die Phasen wechselten sich mit denen ab, in denen er auf Alkohol verzichtete. „Für mich war das eine Selbstbestätigung, dass ich doch gar nicht abhängig bin“, hat er sich damals eingeredet und gleichzeitig den Tag herbeigesehnt, an dem er sich selbst wieder zu trinken gestattete.
Verspielt hatte Frank Crosberger da bereits so einiges, da war der dreifache Verlust des Führerscheins wohl sein kleinstes Übel. Nachdem seine erste Ehe in die Brüche und die Firma pleite gegangen war, stand er mit seiner Privatinsolvenz und zwei Koffern da: „Das war mein Leben“, sagt er zu der Phase, als er mit 40 Jahren wieder zu seiner Mutter gezogen ist. Lange Zeit war er überzeugt, andere seien an seiner Misere Schuld, bevor er sich um einen Job bemühte, eine Anstellung als Leiharbeiter fand und sich langsam wieder hocharbeitete.
2000 bekam er einen Job im Uniklinikum. Das funktionierte super, sagt er ironisch: „Das Trinken habe ich auf den Abend oder das Wochenende verlegt, trank dann von Freitag bis Sonntagmittag.“ Bis zum Herzinfarkt genau ein Jahr später, auf den die Reha mit einem für ihn verhängnisvollem Satz des Arztes folgte. „Ein Glas Rotwein ist in Ordnung“, habe dieser gesagt, nicht ahnend, was er anrichtete. Für Frank Crosberger war das eine prima Idee, es gab halt große, volle Gläser, in die beinahe der Inhalt einer Flasche passte.
Er wollte aufhören, konnte es aber nicht mehr und wurde depressiv
„Man betrügt sich einfach immer selbst“, sagt er zu der Phase, in der schon ganz klar gewesen ist, dass er abhängig ist. Er wollte aufhören, konnte es aber nicht mehr, wurde depressiv, merkte selbst, dass sein Körper diesen Konsum nicht mehr mitmacht. „Sobald der Pegel sank, bekam ich Schweißausbrüche, Herzrasen, mein Puls raste.“ Kotzelendig war ihm, bis er Rotwein und Jägermeister nachschüttete.
Selbsthilfegruppe „Leben ohne Alkohol“
Die Selbsthilfegruppe „Leben ohne Alkohol“ trifft sich freitags, 19.30 bis 21 Uhr im Bodelschwingh-Haus, Jasperweg. Wer teilnehmen möchte, kann unverbindlich zu einem der Treffen kommen. Angesprochen sind Betroffene und deren Angehörige.
Ziele der Gruppe: Betroffenen, Angehörigen und Interessierten, die mit der Sucht allein nicht fertig werden, zu einem zufriedenen, trockenen Leben zu verhelfen. Gesprochen wird dabei über Suchtmittel, aber auch über alle Nöte, die jemanden etwa zum Trinken veranlasst haben.
Zwei Voraussetzungen gibt es: Teilnehmer dürfen zuvor keinen Alkohol getrunken haben. Zudem gilt, dass das in diesem Kreis Gesprochene nicht nach außen getragen wird. Vertrauen ist den Mitgliedern der Gruppe nicht nur wichtig, für offene Gespräche sei dieses unabdingbar.
Kontakt zu Frank Crosberger: 0177-7599853 oder per Mail an: frankcrosberger@web.de
Bis er so nicht mehr wollte und konnte, seinen Rucksack packte und in ein Hotel nach Münster fuhr. Da hatte er sich bereits Tabletten besorgt, sich vom Leben verabschiedet und einen Brief geschrieben. „Suizid war für mich die einzige Lösung.“ Dieser wäre ihm wohl gelungen, hätte er nicht sein Smartphone angelassen, hätte sein Schwager nicht rasch reagiert, der bei der Kriminalpolizei arbeitet. Er ließ das Handy orten. „Plötzlich stand die Polizei im Hotelzimmer“, berichtet der 64-Jährige von der Nacht, die seine letzte hätte sein sollen.
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Stattdessen folgten vier Wochen Psychiatrie und die Erkenntnis, dass er etwas tun muss. Einen Königsweg aus der Sucht gebe es nicht: „Aus vielen Wegen muss jeder seinen finden. So sei er schließlich zur Selbsthilfegruppe gekommen, sagt er nun, da er inzwischen ausgebildeter Suchthelfer, Gruppenleiter und seit 2010 trocken ist. Ohne Therapie, aber mit der Hilfe anderer Betroffener.
Endlich dreht sich in seinem Alltag nicht schon morgens alles darum, ob genug Alkohol im Haus ist und wo sich dieser am besten verstecken lässt. Heute hat er wieder einen Führerschein, pflegt seinen Garten, begeistert sich für Modellbau wie für seine Oldtimer, das 40 Jahre alte Wohnmobil und den noch älteren Traktor. Wird es ihm zu viel, wenn auf Feiern oder bei Treffen getrunken wird, verlässt er diese.
Um nicht auf schlechte Gedanken zu kommen, hat er sich stets beschäftigt, hat darauf geachtet, dass es ihm nie langweilig wird, hat ein Tor für den Garten gebaut, ist bei Saufdruck in den Keller gegangen, um sich abzulenken. Denn es gab zwar die körperliche Unruhe und das Herzrasen, aber viel schlimmer als der körperliche Entzug fühlte sich der psychische Druck an. Hatte es doch so lange 1000 Gründe zum Trinken gegeben – Stress, Belohnung, Ärger.
Frank Crosberger belohnte sich mit einem Gläschen, aus dem schnell eine Flasche wurde, zettelte Streit an, um sich den Alkohol aus Frust zu gönnen. Um Probleme zu verdrängen. Die blieben zwar und waren am nächsten Tag gleich doppelt so schlimm. Aber für den Augenblick hatte er sich weggeknallt.
Es wurde ihm bewusst, dass Alkoholsucht eine Krankheit und keine Schwäche ist
„35 Jahre habe ich trinken müssen, um mir eingestehen zu können, dass ich abhängig bin.“ Möglich sei ihm das gewesen, als er sich bewusst gemacht habe, dass es eine Krankheit sei, keine Schwäche. Dann war der Wille da, spürte er die Kraft, war in der Lage aufzuhören und dazu die Hilfe in der Gruppe anzunehmen, auch wenn er in den ersten Wochen nur ganz still an den Treffen teilgenommen hat.
Nun leitet er seine eigene Gruppe, hat selbst keine Angst mehr vor einem Rückfall und weiß doch, wie hoch die Quote ist, weiß, dass es keine Garantie gibt. „In den ersten zwei, drei Jahren ist es besonders schwer“, gesteht Frank Crosberger über die Lust, Alkohol trinken zu wollen und den Punkt, an dem auch er hat immer wieder mit sich kämpfen müssen. Er hat gewonnen, ein selbstbestimmtes Leben.