Essen. Chronischer Schmerz belastet Betroffene in jedem Lebensbereich. Das Schmerzzentrum der Uniklinik Essen hilft. Warum Patienten früh kommen sollen.

Millionen Menschen im Land leiden unter chronischem Schmerz, suchen teils jahrelang nach Hilfe, der Leidensdruck ist groß. „Es gibt keinen Facharzt für Schmerztherapie, vielmehr brauchen die Patienten oft unterschiedliche Spezialisten, vom Anästhesiologen bis zum Psychologen und Physiotherapeuten“, sagt Prof. Dr. Ulrike Bingel. Jetzt findet man alle Fachleute unter einem Dach: im Schmerzzentrum der Universitätsmedizin Essen, das die Neurologin leitet. Das multiprofessionelle Team forscht intensiv, und erarbeitet neue Versorgungsformen.

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Der Schmerz als medizinisches Phänomen ist an der Uniklinik seit langem Thema; das Kopfschmerz- und das Rückenschmerzzentrum sind lange etabliert. Das übergeordnete Schmerzzentrum unter Bingels Leitung ging 2020 an den Start – und fiel gleich unter coronabedingte Einschränkungen.

Uniklinik Essen ermutigt Schmerzpatienten, frühzeitig einen Termin zu vereinbaren

Nun möchte die Neurologin Betroffene auf das Angebot aufmerksam machen und sie ermutigen, möglichst früh zu kommen, denn „chronischer Schmerz kann die Lebensqualität stärker beeinträchtigen als eine Krebserkrankung“. Im besten Fall sollte man also rasch handeln, um zu verhindern, dass der akute Schmerz zum dauerhaften Begleiter wird. Klar sei: „Es gibt bei chronischem Schmerz ein enges Zusammenspiel von Körper und Psyche.“

„Chronischer Schmerz kann die Lebensqualität stärker beeinträchtigen als eine Krebserkrankung“, sagt Prof. Dr. Ulrike Bingel, die das Schmerzzentrum der Universitätsmedizin Essen leitet.
„Chronischer Schmerz kann die Lebensqualität stärker beeinträchtigen als eine Krebserkrankung“, sagt Prof. Dr. Ulrike Bingel, die das Schmerzzentrum der Universitätsmedizin Essen leitet. © Frank Preuss

Daher bekommen im Programm „Effect Back“ zum Beispiel Rückenschmerz-Patienten eine gezielte psychologische Therapie, um Ängste vor bestimmten Bewegungen abzubauen. Viele so aufwendige wie teure Operation ließen sich so vermeiden, sagt Prof. Bingel; zumal mancher Eingriff keine Verbesserung bringe. Dennoch habe sich die Zahl der Rücken-OPs in den vergangenen Jahren verdoppelt.

Termin im Schmerzzentrum vereinbaren

Bis zu 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung erleben chronische Schmerzen, also solche, die mehr als drei Monate anhalten. Das beeinträchtigt die Arbeitsfähigkeit, das soziale Leben und die Lebensqualität.

Psychische und körperliche Faktoren (wie die Vermeidung bestimmter Bewegungen) sind bei der Entstehung von chronischem Schmerz offenbar eng verzahnt. Daher ist es so wichtig, dass Patienten möglichst früh eine Diagnostik und eine individuelle Therapie-Empfehlung erhalten.

Die Universitäre Schmerzmedizin bündelt die Expertise aller Kliniken und Institute der Uniklinik Essen, die sich der Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen widmen. Im Schmerzzentrum arbeiten Neurologen, Neurochirurgen, Anästhesiologen, Psychologen, Physio- und Trainingstherapeuten sowie spezialisiertes Pflegepersonal zusammen. Wer einen Termin vereinbaren möchte, benötigt eine Überweisung ins Schmerzzentrum. Die Wartezeiten auf einen Termin liegen bei zwei bis acht Wochen. Kontakt: 0201-723 71 70 oder per Mail an: ; Infos: schmerzmedizin.uk-essen.de/

„Warum sollte ich zum Psychologen gehen und ein Jahr Übungen machen, da lasse ich mich doch lieber operieren“, sei leider eine verbreitete Haltung. „Genau deshalb ist es wichtig, integrierte Angebote zu machen. Dabei müssen medizinische, psychologische und zum Teil auch arbeitsplatzbezogene und soziale Aspekte berücksichtigt werden“, betont Ulrike Bingel. Aber natürlich müsse man Patienten diese komplexe Herangehensweise gut erklären. Denn wenn das Vertrauen in den Arzt und in die Therapie fehle, könne das den Behandlungserfolg beeinträchtigen.

59-Jährigem blieb ein langer Leidensweg erspart

Arnd Neubauer, den die Neurologin seit vielen Jahren behandelt, vertraut ihr – und lässt sich auch auf ungewöhnliche Therapien ein. Der 59-Jährige leidet an Diabetes und in der Folge an Polyneuropathie (PNP), einer Schädigung des Nervensystems: Sein Gleichgewichtsgefühl ist beeinträchtigt, seine Füße sind taub. „Ohne Medikamente ist der Schmerz in den Füßen unerträglich.“ Als die Beschwerden 2014 erstmals auftraten, hielt er sie zunächst für Folgen eines Motorradunfalls im Vorjahr. Glücklicherweise habe ihn seine Praxis gleich in die Schmerzsprechstunde von Prof. Bingel geschickt: „Das hat mir einen sehr langen Leidensweg erspart.“

„Ich war früher ein sehr aktiver Sportler, habe Karate gemacht, Tennis gespielt. Ich habe jetzt zu Hause einen richtigen Fitnessraum mit Rudergerät, Stepper, Fahrrad. Das nutze ich viel“, sagt Schmerzpatient Arnd Neubauer, der sein Bewegungsprogramm umstellen musste.
„Ich war früher ein sehr aktiver Sportler, habe Karate gemacht, Tennis gespielt. Ich habe jetzt zu Hause einen richtigen Fitnessraum mit Rudergerät, Stepper, Fahrrad. Das nutze ich viel“, sagt Schmerzpatient Arnd Neubauer, der sein Bewegungsprogramm umstellen musste. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Bis zur fein austarierten Therapie, die nun erfolgreich ist, haben beide ein wenig gebraucht. Nun wird Neubauer mit Pflastern behandelt, die mit einem Extrakt aus Chilischoten versehen sind, im Wechsel mit Botox-Spritzen, erklärt Ulrike Bingel. „Ich muss in jeden Fuß 25-mal stechen, das ist erstmal sehr unangenehm.“ Danach kann Arnd Neubauer einige Monate lang weitgehend schmerzfrei laufen, „und gut am Leben teilhaben“.

Antidepressiva können gegen Schmerzen eingesetzt werden

Begleitend nimmt er dauerhaft Antiepileptika und Antidepressiva ein. Also Medikamente, die eigentlich für andere Erkrankungen entwickelt wurden, aber sehr gut gegen diese Art Nervenschmerzen helfen. „Klassische Schmerzmittel wie Ibuprofen helfen bei sogenannten neuropathischen Leiden nicht“, sagt Bingel. Auch das müsse man den Patienten gut erklären.

Neubauer hilft seine Therapie enorm; mit Einschränkungen muss er trotzdem leben. „Ich war früher ein sehr aktiver Sportler, habe Karate gemacht, Tennis gespielt.“ Jetzt fallen ihm schon größere Schritte schwer, und wenn er auf einer geraden Linie einen Fuß vor den anderen setzt, gerät er ins Schwanken. Im Schmerzzentrum hat man mit ihm geschaut, was an Sport möglich ist. „Ich habe jetzt zu Hause einen richtigen Fitnessraum mit Rudergerät, Stepper, Fahrrad. Das nutze ich viel.“ Außerdem bekomme er regelmäßig Rezepte für Physiotherapie.

Schmerz beeinträchtigt das gesamte Denken, Fühlen und Handeln

Auch seinen Arbeitstag hat der selbstständige Versicherungsmakler angepasst: „Ich bin nicht mehr in der Lage, mehr als drei Termine am Tag zu machen. Zum Glück kann ich mir meine Arbeitszeit einteilen.“ Nachmittags arbeite er besser als morgens, wenn er schon mal nach einem Wort suchen muss. Seine Ärztin wundert das nicht: „Schmerzen greifen in das gesamte Denken, Fühlen und Handeln ein. Bei starken Schmerzen leiden die kognitiven Fähigkeiten, schon ein Kreuzworträtsel kann da schwierig sein.“

Arnd Neubauer darf nicht mit der völligen Heilung rechnen, aber er hofft, die jetzige Lebensqualität lange zu halten. In seinem Beruf spreche er häufig mit Menschen, die ratlos sind, an wen sie sich mit ihrem Leiden wenden können: „Deshalb möchte ich helfen, dass das Schmerzzentrum bekannt wird.“ „Wir erarbeiten nach der Erstvorstellung für jeden Patienten ein Behandlungskonzept, das oft ganz neu zugeschnitten wird“, sagt Ulrike Bingel. „und in einigen Fällen können wir ganz schnell helfen, weil wir die bewährten Therapien kennen.“