Essen. Mensch statt Mahnmal: Essen diskutiert, wie man an die NS-Diktatur erinnert. Lebenswerk von Ernst Schmidt soll Gedenken an die Opfer wachhalten.

Wer sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Essen beschäftigt, kommt an ihm nicht vorbei: Ernst Schmidt, einflussreicher Essener Stadthistoriker, Journalist und Verleger, vielgefragter Zeitzeuge und langjähriges KPD-Mitglied, das in den 1980ern zur SPD wechselte, gilt als Begründer der NS-Erinnerungskultur in Essen. Als er 2009 starb, hinterließ er der Stadt einen gewaltigen Nachlass. Über 750 Archivkartons voller Materialien zum Thema Verfolgung und Widerstand in der NS-Zeit füllen heute deckenhoch 85 laufende Meter Archivregale im Haus der Essener Geschichte (HdEG). „Einzigartig“, nennt Institutsleiterin Claudia Kauertz die Sammlung, „so etwas gibt es in keiner anderen Ruhrgebietsstadt“.

Der Stadthistoriker Ernst Schmidt in seinem Arbeitszimmer.
Der Stadthistoriker Ernst Schmidt in seinem Arbeitszimmer. © Haus der Essener Geschichte

Für Kauertz steht fest: Mit dem Nachlass Ernst Schmidt ließe sich die Historische Bildungsarbeit, insbesondere in Kooperation mit Essener Schulen, in Zukunft lebendig gestalten. Sofern sein umfangreiches Archiv-Erbe in den kommenden Jahren endlich professionell aufgearbeitet und betreut würde, um es dann auch für jüngere Zielgruppen über Online-Datenbanken zugänglich zu machen.

Nicht nur mit Blick auf die pädagogische Erinnerungsarbeit drängt man auf die Erschließung dieses seit Jahren brach liegenden Archiv-Schatzes: Die Wiederentdeckung der Person Ernst Schmidt könnte nach Ansicht der Historikerin auch die Antwort auf die Frage sein, die Rat und Verwaltung in Essen schon seit einigen Jahrzehnten beschäftigt: Braucht die Stadt ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer des 2. Weltkrieges und des NS-Regimes? Oder kann ein Mensch wie Schmidt mit seiner beispiellosen Sammlung von Dokumenten und Geschichten über die Schicksale Verfolgter so etwas wie eine Identifikationsfigur, mehr noch ein Erinnerungsort werden?

Ein großes Ehrenmal sollte schon vor Jahrzehnten auf dem Burgplatz entstehen

Das Thema Mahnmal ist nicht neu, wird im kommenden Jahr aber wieder aktuell, wenn sich die Machtübernahme des NS-Regimes zum 90. Mal jährt. Schon in den 1950er und 60er Jahren wurde die Frage eines Zentralen Mahnmals in Essen diskutiert und durch einen Beschluss des Ältestenrates 1956 angestoßen. Mögliche Standorte waren damals schon ausgeguckt: 1957 sollte ein großes Ehrenmal zunächst auf dem Burgplatz entstehen, auch der Grugapark war später im Gespräch.

Sogar ein Wettbewerb für die künstlerische Gestaltung wurde Ende der 50er Jahre ausgeschrieben, scheiterte damals jedoch mangels Beteiligung namhafter Künstler. Auch das von Bildhauer Seff Wiedl 1966 entworfene Werk „Flamme“ fand nur wenig Zuspruch. So kam die Debatte über einen geeigneten Standort und die angemessene Gestaltung eines zentralen Mahnmals über Jahrzehnte zu keinem echten Ergebnis und wurde mit der Entscheidung für die Einrichtung einer Mahn- und Gedenkstätte im ehemaligen Synagogengebäude 1979 vorübergehend als erledigt angesehen.

Ein letzter Gruß aus Ost und West und ein politisches Kuriosum: Die Grabschleifen, die der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht und die Stadt Essen zur Beerdigung von Ex-OB Heinz Renner schickten, präsentieren Birgit Hartings, letzte Assistent von Ernst Schmidt, und Claudia Kauertz, Institutsleitern vom Haus der Essener Geschichte (re.)
Ein letzter Gruß aus Ost und West und ein politisches Kuriosum: Die Grabschleifen, die der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht und die Stadt Essen zur Beerdigung von Ex-OB Heinz Renner schickten, präsentieren Birgit Hartings, letzte Assistent von Ernst Schmidt, und Claudia Kauertz, Institutsleitern vom Haus der Essener Geschichte (re.) © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Mit Blick auf das Gedenkjahr 2023 steht die Frage nun wieder im Raum. Ob die Debatte über den Bau eines Mahnmals heute zu einem konkreteren Ergebnis führen würde, bezweifeln dabei viele. Und das nicht nur angesichts der zu erwartenden „heftigen Diskussionen sowohl um den Standort als auch um die ästhetische Gestaltung“, heißt es in einer Vorlage des Kulturausschusses. Kauertz erinnert in diesem Zusammenhang an langwierige Debatten, wie sie um das Berliner Holocaust-Mahnmal geführt wurden. Zudem dürften die aktuellen Kostensteigerungen die Entscheidung zum Bau und Erhalt eines wie auch immer gearteten Gedenkortes nicht gerade befördern. Schon deshalb sei statt eines konkreten Ortes eine Person wie Ernst Schmidt die bessere Lösung, Erinnerungen an die NS-Zeit wachzuhalten, heißt es in einer Ausschussvorlage. Zumal das von ihm über Jahrzehnte angelegte Archiv auf sämtliche Verfolgtengruppen des NS-Regimes beziehe, Juden wie Sinti und Roma, Euthanasieopfer, Homosexuelle, religiös und politisch Verfolge aller Richtungen

„Ernst Schmidt war offen und tolerant in jede Richtung“, sagt Birgit Hartings, langjährige Assistentin des renommierten Stadthistorikers, der sich schon in den 1960er als einer der ersten – und damals noch gegen große Widerstände – für die Erforschung und Aufarbeitung der NS-Zeit eingesetzt hat. Seine zusammengetragenen Dokumente zur Geschichte der Essener Arbeiterbewegung, aber vor allem zum Thema „Verfolgung und Widerstand“ während des Nationalsozialismus gelten in Art und Umfang als einzigartig und schließe eine bedeutende Lücke in der Dokumentation der jüngeren Essener Geschichte. „Ohne die Sammlung könnten wir Anfragen zur NS-Zeit nicht beantworten“, sagt Institutsleiterin Claudia Kauertz.

Das Archiv zählt 12.000 Dokumente und ist noch lange nicht aufgearbeitet

Doch die enorme Vielfalt des umfangreichen privaten Archivs mit seinen 12.000 Dokumenten hat auch einen Haken. Zum einen sei die Sammlung mit ihren Akten, Briefen und Flugblättern, den Fotografien, Objekten und den aufgezeichneten Zeitzeugeninterviews bislang noch exakt in dem Zustand, in dem sie die Stadt 2006 angekauft hat und lasse eine intensive Bearbeitung nicht zu, bedauert Kauertz. Zum anderen seien die Nutzungsrechte der privaten Nachlässe vielfach ungeklärt, die beispielsweise Nachfahren jüdischer Familien wie Salzmann, Hirschsohn und Loewenstein dem Archiv hinterlassen haben. Aber auch Essener Persönlichkeiten wie der kommunistische Widerstandskämpfer und Buchenwald-Überlebende Theo Gaudig oder Essens erster Oberbürgermeister nach den Zweiten Weltkrieg, der KPD-Politiker Heinz Renner, tauchen im Archiv auf.

Ihre Nachlässe müssten ebenso akribisch aufgearbeitet werden wie die zahllosen Gedenktafeln, mit denen Ernst Schmidt schon in den 1980ern unter dem Titel „Essen erinnert“ ein Netz von Hinweisen gelegt hat, die Orte des NS-Terrors in Essen kennzeichnen. Doch zahllose Erinnerungsorte sind mittlerweile in einem desolaten Zustand. Die Tafeln sind von wucherndem Grün bedeckt, teilweise zerstört und in einem so schlechten Zustand, dass Besucher bisweilen sogar im Stadtarchiv anrufen und darüber klagen würden, berichtet Kauertz.

Dabei würde das Haus der Essener Geschichte den Archiv-Schatz gerne fachlich aufarbeiten und vor allem den Essener Schulen erschließen. Doch was bislang fehlt, ist die notwendige Personalausstattung. Eine Honorarkraft des Historischen Vereins kann die Sammlung derzeit nur notdürftig betreuen.

Ernst Schmidt bekam die Folgen von Repression selber zu spüren

Dabei, so Kauertz, ermögliche das Schmidt-Archiv, was ein Mahnmal niemals leisten könne: „Eine lebendige, personenbezogene Vermittlung“. Zumal Ernst Schmidt selber die Folgen von Repression zu spüren bekam und nach der Veröffentlichung der Schrift „Wir klagen an – NS-Richter und Staatsanwälte in Essen“ 1960 zu einer mehrmonatigen Haft verurteilt wurde.

Nach seiner politischen und verlegerischen Arbeit widmete sich der gebürtige Borbecker und langjährige KPD-Mann in den 1980ern dann mehr und mehr der Erforschung der Geschichte der NS-Zeit in Essen. Schmidt war in Essen Mitinitiator der Aktion „Stolpersteine“, die an Opfer der NS-Zeit erinnern. Er gehörte ebenso mit zu den Initiatoren der 1980 eröffneten Mahn- und Gedenkstätte Alte Synagoge, mittlerweile Haus der jüdischen Begegnung und erst unlängst durch die Schüsse auf das Rabbinerhaus wieder in den Focus bundesweiter Wahrnehmung geraten.

Der Angriff auf das Rabbinerhaus dürfte vielen einmal mehr bewusst gemacht haben, wie wichtig das Erinnern an die Opfer von politischer Verfolgung und Gewalt ist – nicht nur in Zeiten der NS-Diktatur.