Essen-Steele. Die Büros im Steeler Wasserturm hat Unternehmer Christian Mauve als Unterkunft umgebaut: Was seine ukrainischen Gäste über ihre Flucht berichten.

Der weite Blick vom Steeler Wasserturm aus auf das grüne Essen ist beeindruckend, selbst wenn der Himmel verhangen ist. Denys Berzoy, seine Frau Kateryna und deren Mutter Svitlana Hutsal stehen auf der Plattform und schauen erleichtert. Denn für sie bedeutet das alles vor allem eines: Zur Ruhe kommen, in Sicherheit sein, eine Unterkunft haben. Weil in ihrer Heimat, der Ukraine, der Krieg tobt.

Büroraum im Steeler Wasserturm wird derzeit nicht genutzt

Eigentlich ist der Wasserturm am Laurentiusweg die Wirkungsstätte von Christian Mauve. Der Heidhauser ist Inhaber eines IT-Unternehmens, das sich auf Software für den Apotheken-Versandhandel spezialisiert hat. „Mein Team ist aber fast komplett im Homeoffice“, berichtet der 56-Jährige. Die Computerarbeitsplätze sind mithin leer, der Büroraum ungenutzt. Und da die Stadt Essen händeringend Unterbringungsmöglichkeiten für Geflüchtete sucht, war es für Christian Mauve keine Frage: „Im Wasserturm ist Platz genug.“

Freuen sich über ihren gemütlich eingerichteten Rückzugsraum im Steeler Wasserturm: Svitlana Hutsal, Kateryna Berzoy mit Söhnchen Daniel (acht Monate) und Ehemann Denys (von links).
Freuen sich über ihren gemütlich eingerichteten Rückzugsraum im Steeler Wasserturm: Svitlana Hutsal, Kateryna Berzoy mit Söhnchen Daniel (acht Monate) und Ehemann Denys (von links). © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Das Sozialamt Essen zögerte nicht, von dem Angebot Gebrauch zu machen. Kaum hatte Mauve mit Hilfe seiner Mitarbeiter Matratzen und erste Utensilien in eines der Büros bugsiert, standen Denys und Kateryna Berzoy mit ihrem acht Monate alten Söhnchen Daniel, Oma Svitlana Hutsal sowie Hund und Katze auch schon vor dem 30 Meter hohen, denkmalgeschützten Gebäude. Sie hatten eine lange Reise hinter sich.

Kontakte nach Deutschland bestanden bereits

In dem umgebauten Wasserbehälter hoch oben über dem Stadtteil Steele haben sie vor drei Wochen ihre Unterkunft bezogen, können nun – mit etwas Abstand – über die traumatischen Dinge sprechen, die sie bewegen. Denys Berzoy ist, wie der Zufall so spielt, ebenfalls Software-Entwickler, arbeitet für Unternehmen in den USA. Vom Angriff Putins erfuhr der 31-Jährige bei einem Wochenendaufenthalt in Berlin. Für ihn sei klar gewesen, dass er nicht mehr in seine Heimat Odessa zurückkehren könne, denn Kiew würde sicher nicht das einzige Ziel bleiben, sagt er. Was sich mehr als bewahrheitet hat. Aktuell werden aus der strategisch wichtigen ukrainischen Küstenstadt mehrere Explosionen gemeldet.

Wie der Zufall so spielt: Denys Berzoy und seine Frau Kateryna sind wie Gastgeber Christian Mauve (Mitte) im IT-Bereich tätig.
Wie der Zufall so spielt: Denys Berzoy und seine Frau Kateryna sind wie Gastgeber Christian Mauve (Mitte) im IT-Bereich tätig. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

„Zuerst war der Gedanke, dass die Familie Richtung Türkei ausreist“, erzählt Berzoy, der sich von Berlin nach Istanbul aufmachte. Doch der Plan zerschlug sich, der Luftraum war dicht und Kateryna in Sorge um ihre Sicherheit. „Wir hörten von schweren Angriffen überall“, erzählt sie. Gemeinsam mit ihrem Mann beschloss die 29-Jährige, dass es besser sei, mit dem Auto zu fliehen, denn Hund und Katze sollten auf jeden Fall mit. Deutschland wurde zum Zielland. „Denn in Münster hatte ich vor einigen Jahren eine Sprachschule besucht“, berichtet die studierte Ökonomin.

Der Wasserturm am Laurentiusweg versorgte von 1898 bis Anfang der 1980er Jahre die umliegenden Wohngebiete. Das Gebäude ist seit 1987 denkmalgeschützt.
Der Wasserturm am Laurentiusweg versorgte von 1898 bis Anfang der 1980er Jahre die umliegenden Wohngebiete. Das Gebäude ist seit 1987 denkmalgeschützt. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Reiseroute über Rumänien, Ungarn und Österreich

Während Denys Berzoy also zuerst in Münster unterkam, dann zur Registrierung nach Bochum geschickt wurde und schließlich im Erstaufnahmelager der Stadt Essen landete, machte sich seine Frau mit dem Baby, ihrer Mutter und den Tieren über Rumänien, Ungarn und Österreich auf eine über 2500 Kilometer lange Reise. „Wir mussten an den Grenzen lange warten und hatten ständig Angst, zurückgewiesen zu werden.“ Doch selbst Polizeikräfte seien freundlich gewesen, hätten Babynahrung und Windeln angeboten.

In einem Essener Hotel, das bereitwillig auch Tieraufenthalte erlaubt, war die Familie in der zweiten Märzwoche endlich wieder vereint, konnte sogar nach der behördlichen Registrierung nach kurzer Zeit schon in den Wasserturm übersiedeln. Hier wurde die Familie von der Nachbarschaft herzlich empfangen. „Wir gehen mit dem Hund raus und bekommen sofort ganz viele Hilfsangebote“, berichtet das Paar. „Ich habe zwei Jahre gebraucht, die Leute hier kennenzulernen“, wirft Christian Mauve da lachend ein. Er ist aber sehr froh, dass die ukrainische Familie so problemlos angenommen wird. „Sie können bleiben, solange sie wollen.“

Infos der Stadt Essen

Viele Essener bieten Menschen aus der Ukraine aktuell kostenlose Unterkunft an oder sie kommen bei Verwandten, Freunden und Bekannten unter. Private Personen dürfen Flüchtlinge aufnehmen, denn eine Einreise aus der Ukraine ist aktuell visumsfrei möglich und der Wohnsitz darf aktuell frei gewählt werden.

Eine solche Aufnahme muss der Stadt nicht gemeldet werden, bei der Anmeldung des Wohnsitzes ist dann die Adresse des Gastgebenden anzugeben. Alle weiteren Infos dazu auf www.essen.de/ukraine

Pläne für eine Zukunft in Deutschland

Bleiben in Essen ja, aber eine eigene Wohnung soll es trotz des Komforts mit Küche und Bad im Wasserturm doch bald sein. Einen ersten Besichtigungstermin gibt es schon. „Wir werden in absehbarer Zeit nicht in die Ukraine zurückkehren“, ist sich Denys Berzoy sicher. Auch wenn Familie und Freunde zurückgelassen werden mussten. Die politische Zukunft ihrer Heimat sei mehr als ungewiss. „Wir bekommen Fotos zugeschickt, die überall Minen auf den Straßen zeigen“, sagt die junge Mutter. Sie hören von Toten, zerstörten Häusern, Menschen, die in Kellern Schutz suchen. Und sie hören von russischen Freunden, die das alles nicht wahrhaben wollen. „Die sagen, wir lügen.“

Beruflich sehen die Berzoys keine Probleme, im Westen Fuß zu fassen. Selbst Oma Svitlana Hutsal (58), die lange zögerte mitzukommen, unterrichtet ihre Grundschulkinder per Laptop und Videoschalte. Kateryna Berzoy: „Die Kinder sind inzwischen überall verstreut. Aber das hat sich durch Corona schon eingespielt.“ Natürlich vermissten sie ihre Heimat. „Aber die wird nie wieder so aussehen, wie wir sie kennen“, sagt die Ukrainerin. Für ihren Sohn Daniel werde Deutschland zur Heimat werden.