Essen. Mit kritischen Worten zum Namensgeber der Krupp-Stiftung ließ deren Chefin Ursula Gather jüngst aufmerken. Was weiß man über die NS-Verstrickung?
Die Ankündigung kam überraschend und wie es schien aus heiterem Himmel: Die Alfried Krupp-von Bohlen und Halbach-Stiftung wolle sich noch einmal eingehend mit der Biografie ihres Stifters und seines Verhaltens im Nationalsozialismus auseinandersetzen, ließ Stiftungschefin Ursula Gather Ende Oktober bei einer Veranstaltung in der Villa Hügel wissen. Er habe „ohne Zweifel Schuld auf sich geladen, über die keineswegs schon alles gesagt und geschrieben ist“, und die Aufarbeitung in der Nachkriegszeit sei „eindeutig unzulänglich gewesen“. Schon die strikte Wortwahl ließ aufmerken. Was weiß man über die NS-Verstrickung des damals wohl bekanntesten deutschen Industriellen? Und was nicht?
Zunächst: Dass unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keine Aufarbeitung stattgefunden habe, wird man über viele NS-belastete Wirtschaftsführer sagen müssen, über Alfried Krupp aber wohl am wenigsten. Das war allerdings weder sein Verdienst noch das der Firma, deren letzter Alleininhaber er war. Vielmehr waren es die alliierten Sieger, die schon kurz nach dem Einmarsch in Essen damit begannen, im Fall Krupp jeden verfügbaren Stein umzudrehen.
Vor allem die Amerikaner wollten nachweisen, dass das Unternehmen und seine Eigentümer nicht nur bereitwillig den NS-Staat stützten, vielmehr sogar ein mitentscheidender Teil der Maschinerie gewesen sei, die Europa in Trümmern gelegt und durch Staatsterror unzählige Menschenleben gefordert hatte. Die Essener Traditionsfirma mit ihrem ins Mythische überhöhten Ruf sollte Beleg für die These sein, dass Hitler ohne willige Kapitalisten wie Alfried Krupp gar nicht so mächtig war und schon gar nicht hatte werden können.
Alfried Krupp hätte die Todesstrafe drohen können
Dem Zufall und der zunächst chaotischen Prozessvorbereitung war es geschuldet, dass Alfried Krupp nicht neben Hermann Göring und den anderen Hauptkriegsverbrechern im Nürnberger Hauptprozess Platz nehmen musste, was für ihn die Todesstrafe hätte bedeuten können. Im zehnten der zwölf von den USA angestrengten Nachfolgeprozessen aber ging es 1947/48 dann exklusiv um die Frage, welche Verantwortung Alfried Krupp und elf seiner Direktoren trugen.
Am Ende stand der Beweis persönlicher Schuld auf wackeligen Beinen, dennoch wurde Krupp wegen angeblicher Raubzüge in von der Wehrmacht besetzten Gebieten sowie wegen Förderung der Zwangsarbeit zu zwölf Jahren Haft und Einzug seines Vermögens verurteilt. Weil sich der politische Wind drehte und auch, weil die amerikanische Besatzungsmacht gerade diese Verurteilung im Nachhinein eher als Fehler ansah, kam Alfried Krupp 1951 vorzeitig frei und konnte zudem seine Eigentümerrechte am Unternehmen wieder wahrnehmen.
Festzuhalten ist: Praktisch mit dem Tag des Kriegsendes wühlten sich amerikanische und britische Ermittler durch Akten und andere Zeitzeugnisse, es folgten bis in die Gegenwart zahlreiche Historiker und Journalisten. Als Standarddarstellung gilt das zweibändige Werk zur Krupp-Geschichte, das vor zwei Jahrzehnten von einem renommierten Forschungsteam unter Leitung des Historikers Lothar Gall erarbeitet wurde.
Was will die Stiftung also finden, um dem Bild ihres Gründers neue, möglicherweise negative Facetten hinzuzufügen? Oder weiß man schon konkret mehr über kompromittierende Aussagen und die mögliche Beteiligung an Untaten, über die laut Stiftungschefin Gather „keineswegs schon alles gesagt und geschrieben ist“?
Wer auf dem Hügel nachfragt, stößt dort eher auf Zurückhaltung. „Die Stiftung sieht es als ihre Verantwortung und Aufgabe an, sich erneut mit der Biografie ihres Stifters zu befassen und hat daher ein unabhängiges, wissenschaftliches Projekt auf den Weg gebracht“, heißt es auf Anfrage in einer offiziellen Mitteilung. Es liefen Gespräche „mit einem renommierten Historiker, der eine Quellensichtung und -recherche mit Fokus auf bisher unbekannte und wenig beachtete Quellen vornehmen könnte“. Wirklich Neues gebe es – Stand jetzt – jedoch keineswegs.
In der Stiftung scheint es nach der Ära Beitz nun ein größeres Störgefühl zu Alfried Krupp zu geben
Das klingt dann doch etwas weniger aufregend, als es die eingangs zitierten Sätze von Ursula Gather nahelegen, wenngleich Überraschungen auch durch Neu-Interpretation historischer Quellen prinzipiell immer möglich sind. Aber wie auch immer, die Stiftungschefin hat offensichtlich Zweifel, ob die bisherigen Bemühungen die ganze Wahrheit enthalten. Während Berthold Beitz, der von 1968 bis 2013 als Stiftungsvorsitzender amtierte, seinen von ihm bewunderten Förderer und Weggefährten Alfried Krupp stets in Schutz nahm, ihn gleichsam mit seinem eigenen, politisch untadeligen Lebenslauf imprägnierte, scheint seine Nachfolgerin über acht Jahre nach Beitz’ Tod nun andere Signale für nötig zu halten.
Das Urteil von 1947 wurde durch die Begnadigung 1951 offiziell ja keinesfalls aufgehoben, wenn auch stiekum sicherlich relativiert. Gibt es in der Stiftung mittlerweile ein „Störgefühl“, einen verurteilten Kriegsverbrecher als Namensgeber zu haben? Stiftungssprecherin Barbara Wolf widerspricht deutlich: Von einem Störgefühl könne absolut keine Rede sein, die geplante Forschungsarbeit habe weder das Ziel, das Bild von Alfried Krupp zu verdunkeln noch es zu erhellen, sondern sei frei und ergebnisoffen angelegt.
Alfried Krupp war ein großer Schweiger - das macht es schwierig, ihn eindeutig zu bewerten
Wieviel Nationalsozialismus steckte nun aber in Alfried Krupp? Zeitlebens war der älteste Sohn von Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach ein großer Schweiger, der auch schriftlich wenig Aussagekräftiges hinterließ. Das macht es schwierig, seine Rolle in der NS-Zeit eindeutig zu bewerten. Als er Ende 1943 von seinem todkranken Vater die Verantwortung für das Unternehmen übertragen bekam, befand sich das nationalsozialistische Deutschland schon im Todeskampf, der den menschenverachtenden Fanatismus allerdings noch einmal enorm steigerte und auch vor der Wirtschaft keineswegs Halt machte, die erheblichen politischen Zwängen ausgesetzt war.
Rüstungsminister Albert Speer forderte und erhielt weitreichende Befugnisse in den kriegswichtigen Unternehmen, zu denen auch Krupp gehörte. Das Regime wollte nun durchregieren und nicht mehr auf Althergebrachtes Rücksicht nehmen, das man besonders in den alten Traditionsunternehmen wie Krupp als hemmend empfand. Zwar behielten die jeweiligen Eigentümer formell das Sagen, hatten sich aber faktisch den politisch festgelegten Produktionsplänen zu unterwerfen.
Alfried Krupp, von Natur aus introvertiert und zurückhaltend, hinterließ in den beratenden Gremien der Kriegswirtschaft aus Sicht der NS-Funktionäre keinen besonders guten Eindruck. „Es fehlten ihm praktisch alle Eigenschaften, die das Regime an einem idealen Betriebsführer schätzte: robuster Egoismus, blinder Fanatismus und skrupellose Durchsetzungsfähigkeit“, urteilte der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser. Bekannt sind weder ausgeprägt NS-freundliche noch kritische Äußerungen oder Taten. Auf Fotos mit Uniformträgern lässt ihn sein unmilitärisches Wesen und Auftreten mitunter wie ein Fremdkörper wirken.
Andererseits ist unstrittig, dass Alfried Krupp bis zuletzt im Sinne des NS-Staats funktionierte und dafür sorgte, dass auch sein durch Bomben schwer getroffenes Unternehmen zu keinem Zeitpunkt aus der Reihe tanzte. Berührungsängste waren ihm fremd, schon 1931, deutlich vor Hitlers Machtergreifung, tritt er als förderndes Mitglied der SS bei und 1938, mit Eintritt in den Krupp-Vorstand, auch der NSDAP. Ob bei solchen Schritten Anpassung und politische Absicherung im Vordergrund standen oder sie Ausdruck ideologischer Nähe waren, wird vielleicht klarer durch das neue Forschungsprojekt, das genau diesen Anspruch hat.
Hätte Krupp die Beschäftigung von Zwangsarbeitern ablehnen können?
Unter den vier Anklagepunkten im Krupp-Prozess war das Thema Zwangsarbeit das einzig wirklich stichhaltige, die deutsche Wirtschaft insgesamt muss sich bis heute damit auseinandersetzen. Ob ein Unternehmen wie Krupp unter den Bedingungen einer dirigistischen Kriegswirtschaft die staatliche geforderte Beschäftigung von Zwangsarbeitern verweigern konnte, war schon 1948 strittig. Die Verteidiger vor Gericht waren begreiflicherweise bemüht, eine Art Befehlsnotstand zu reklamieren, dem sich auch ein Alfried Krupp nicht habe entziehen können.
Falsch ist das nicht, betont Werner Abelshauser, der im 2002 erschienenen Buch „Krupp im 20. Jahrhundert“, dem zweiten Band des Gall-Projekts, den derzeitigen Forschungsstand zusammenfasste. Dafür erntete er allerdings auch Widerspruch von Historikerkollegen. Fakt ist jedenfalls: Das NS-Regime war zumal gegen Ende keineswegs gewillt, offenen Widerspruch zu dulden. Ein großer Name schützte dabei nicht.
Dennoch liegt der Gedanke nahe, dass die Unternehmensleitung und auch Alfried Krupp persönlich den Zwangsarbeitern in Sachen Ernährung, Unterbringung und Zwangsmaßnahmen das Leben erträglicher hätte machen können, und sei es mit dem Argument, sie schließlich zu benötigen. Doch anders als zur selben Zeit sein späterer Generalbevollmächtigter Berthold Beitz in einer sicherlich nicht vergleichbaren Position, riskierte Alfried Krupp – soweit bekannt – fast nichts.
Anders als Berthold Beitz, hat Alfried Krupp soweit bekannt nichts riskiert
Berthold Beitz hat in seiner Eigenschaft als Erdöl-Manager unter persönlicher Lebensgefahr zahlreiche jüdische Zwangsarbeiter vor dem Tod gerettet. Und dennoch machte er es später zu einer seiner Lebensaufgaben, den Namen Krupp zu rehabilitieren, was ihm auch gelang. „Ich lasse auf Alfried Krupp nichts kommen“, bekannte er mehr als einmal. Nur so ist beispielsweise zu erklären, dass der große Saal der Essener Philharmonie den Namen eines verurteilten Kriegsverbrechers, eben Alfried Krupp, trägt.
Berthold Beitz und Alfried Krupp, die hellere und die dunklere Seite der Macht – „dies alles bleibt Teil unserer Geschichte“, sagte Ursula Gather bei jenem Treffen auf Villa Hügel in Anwesenheit der Direktorin des Jüdischen Museums Berlin, Hetty Berg. Die Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden formulierte in ihrer Festrede ihr Unbehagen darüber, „an diesem prachtvollen Ort“ zu sprechen, der Ausdruck des Reichtums sei, der auch dank der Waffenproduktion unter anderem für Hitler erzielt wurde.
Trotz ihrer Zweifel habe sie sich dazu entschieden, nach Essen zu kommen. „Denn wenn ich nicht gekommen wäre, dann wäre eine Chance für Austausch, für gegenseitiges Zuhören, Sprechen, Widersprechen und Verstehen vergeben gewesen“. Wenn dieser Satz auch für das Aufarbeitungsprojekt leitend wird, dann könnte eine wirkliche Chance damit verbunden sein.