Essen. .
Es ist der 11. April 1945. In schneller Fahrt nähern sich Jeeps dem Haupthaus der Villa Hügel. Ihr Auftrag: Krupp sofort verhaften! In Alfried Krupp sehen die Alliierten keinen Unternehmer, sondern den „Hauptvertreter des deutschen Monopolkapitals“.
Die amerikanischen Truppen, die an diesem Tag Essen besetzen, haben zuvor das Hügel-Gelände mit Panzern abgesichert, die Eingänge blockiert, als nähere man sich einer Festung. Weil der kommandierende Offizier, Oberstleutnant Sagmoen, von einem, wie man hört, so finsteren Gesellen wie Krupp offenbar Widerstand erwartet, hat er noch ein Maschinengewehr aufpflanzen lassen. Vielleicht wollte er aber auch nur dem mitfahrenden Pressefotografen ein dramatisches Bild bieten.
Nach einem kurzen Rundgang durch die Räume, lässt Sagmoen dann durch Butler Wilhelm Dormann zur Festnahme bitten. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach hatte in der Bibliothek im Erdgeschoss bereits darauf gewartet. Die Bilder, die draußen gemacht werden, gehen um die Welt. Unbewegt, anscheinend gelassen, sogar mit einer Spur Erleichterung im Blick hockt Alfried Krupp auf dem Notsitz des Jeeps, hinter ihm der grimmig dreinblickende Maschinengewehrschütze. Er ahnt nicht, dass er erst nach sechs langen Jahren wieder ein freier Mann sein wird.
In Alfried Krupp sehen die Alliierten nicht irgendeinen Unternehmer, sondern den „Hauptvertreter des deutschen Monopolkapitals“ und damit einen umfassend Mitschuldigen an allen Untaten des NS-Regimes. Auch in den USA war die öffentliche Meinung in den letzten Kriegsjahren stark geprägt von jener vulgärmarxistischen Geschichtsauffassung, wonach die Politik stets nur ausführe, was das „Kapital“ verlange.
Dass ausgerechnet Hitler nach der Pfeife von Industriellen - und seien es die Krupps - getanzt hätte, klingt nicht nur heute absurd. Spätestens ab Mitte 1943, als Rüstungsminister Albert Speer im Sinne einer enormen Steigerung des Waffenausstoßes immer mehr wichtige Produktionsentscheidungen an sich riss, war der Einfluss aller Wirtschaftsführer stark gesunken. Wie stark, das wird ein Streitpunkt bleiben - letztlich bis heute und nicht nur im Fall Krupp.
Die Meinung der Alliierten aber lässt sich schön an der Reaktion des Obersten ersehen, in dessen Gefangenenlager in Recklinghausen Alfried Krupp schließlich seine ersten Internierungstage verbrachte. Als Sagmoen seinen Chef fragte, ob dieser Krupp sprechen wolle, soll dieser nach Angaben des britischen Historikers Frederick Taylor so reagiert haben: „Ich will den Dreckskerl nicht sehen, bringen Sie ihn zu den anderen Gefangenen.“
Während Alfried Krupp kaltgestellt ist, soll in den zerbombten Werken in Essen nach dem Aufräumen wieder das normale Leben beginnen. So zumindest stellen es sich die leitenden Kruppianer vor, so hoffen es Zehntausende Arbeiter und so lässt sich Alfried Krupp auch in den Verhören aus. Er sei schließlich „Geschäftsmann und kein Politiker“. Doch alle verkennen, welchen verheerenden Klang der Name Krupp bei den Alliierten hat. Das gilt erst recht, nachdem die Briten die Amerikaner als Besatzungsmacht in Essen ablösen. „Meine Herren, da draußen wird nie mehr ein Schonstein qualmen“, eröffnet der neue Stadtkommandant, Oberst Douglas Fowles, den Leitenden mit großer Geste auf das Werksgelände. Man wolle mit Krupp „für alle Zeiten Schluss zu machen“. Das ist keine leere Drohung. Während andere längst wieder bei ihren Geschäften sind, detonieren in Essen noch bis in die 1950er Jahre die Sprengungen der Demontage-Trupps.
Glück im Unglück
Der Mythos von den „Kanonenkönigen“, den man bei Krupp selbst gerne gepflegt hat, jetzt wird er zur tödlichen Bedrohung. Das ist wörtlich zu verstehen. Würde Gustav Krupp nicht nach einem Schlaganfall im Februar 1945 schwerkrank in Österreich vor sich hindämmern, wäre ihm ein Los als Angeklagter beim Prozess aller vier Alliierten gegen die Hauptkriegsverbrecher sicher gewesen. Auf einer Anklagebank mit Hermann Göring und anderen NS- und Wehrmachts-Größen hätte Krupp die „wirtschaftliche Seite“ der Gewaltherrschaft vertreten sollen, und ein Todesurteil, mindestens aber eine sehr lange Haftstrafe wären sehr wahrscheinlich gewesen, eine spätere Begnadigung hingegen praktisch unmöglich.
Nur: Gustav ist erwiesenermaßen nicht prozessfähig. Gegen Alfried als „Ersatzmann“ sträuben sich die Briten, die es zu Recht anrüchig finden, in einem Gerichtsverfahren den Vater gegen den Sohn auszutauschen, um symbolhaft auf jeden Fall einen Krupp anzuklagen. Es reicht auch nicht die Zeit, um rechtzeitig noch 1945 eine Anklageschrift zu erstellen. So hat Alfried Krupp zweifach Glück im Unglück: Er muss nicht neben der Nazi-Elite Platz nehmen. Und nur die USA werden über ihn richten und können ihn später dann auch allein begnadigen.
Der Prozess Vereinigte Staaten von Amerika gegen Alfried Krupp und elf Mitglieder des Krupp-Direktoriums beginnt im November 1947. Von Beginn an ist es schwierig, den Angeklagten persönliche Schuld nachzuweisen, die nach westlichem Rechtsverständnis Voraussetzung für eine Strafe ist. Zwei der vier Punkte - Verschwörung gegen den Frieden und Mitschuld am Ausbruch eines Angriffskrieges - werden wegen offensichtlicher Unsinnigkeit rasch fallengelassen. Beim Punkt Plünderung fremder Industrievermögen im Ausland stützt sich das Gericht letztlich auf einen dubiosen Zeugen - nicht nur der Historiker Werner Abelshauser hält dies heute für eine juristische Fehlleistung.
Ernster und berechtigter ist die Frage der Zwangsarbeit, die den vierten Anklagekomplex umfasst. Wie alle Unternehmen dieser Größe hat auch Krupp als Ersatz für die zum Kriegsdienst eingezogenen Stammbelegschaft Zwangsarbeiter beschäftigt, zuletzt auch KZ-Häftlinge. War Krupp hier selbst aktiv, wie die Anklage meint? Oder war der Staat die treibende Kraft, das Unternehmen nur Befehlsempfänger, wie die Verteidigung argumentiert?
Neue Forschungen stützen eher die These, dass die Spielräume gegenüber dem Regime zu eng waren, um das politisch gewollte und geförderte Zwangsarbeitersystem etwa ablehnen zu können. Gleichzeitig bleibt die Frage, ob Krupp genug tat, um das Los der Unglücklichen zumindest zu verbessern. Man beschaffte zwar Lebensmittel und baute Luftschutzbunker „für Ostarbeiter“, aber insgesamt blendet Alfried Krupp das Elend im eigenen Hause zu stark aus.
Eine weiße Weste hat er jedenfalls nicht. Dennoch ist das Urteil hart, verglichen damit wie billig andere davonkommen: Zwölf Jahre Haft und Einzug des gesamten Vermögens - letzteres eine Strafe, die nicht mal diejenigen traf, die sich persönlich schwerster Verbrechen schuldig machten.
Kein Wunder, dass viele das Urteil als politisch motiviert und ungerecht empfanden. Wie er angesprochen werden wünsche, fragt ihn ein Bewacher in der Haftanstalt Landsberg, mit „Krupp“, mit „von Bohlen“ oder mit dem kompletten langen Namen. „Nennen Sie mich Krupp“, sagte der Verurteilte, „wegen dieses Namens bin ich hier“.