Essen. Während die Uniklinik Essen nur Geimpfte einstellt, kritisiert der Chef der Stiftung Unimedizin die Impfpflicht, spricht gar von Körperverletzung.

  • In einem Aufruf wenden sich Wissenschaftler und Mediziner gegen eine Impfpflicht und zweifeln an, dass es in Deutschland eine medizinische Notlage gebe
  • Zu den Unterzeichnern gehört Prof. Dr. Karl-Heinz Jöckel, Vorsitzender der Stiftung Universitätsmedizin Essen, die das Uniklinikum Essen millionenschwer fördert
  • Die Thesen des Aufrufs stehen in krassem Widerspruch zur Politik der Uniklinik. Jöckel betont, dass er rein als Privatmann und Wissenschaftler spreche
  • Er ärgere sich über den wachsenden Zwang zur Impfung und fordere Entscheidungsfreiheit für jeden
  • Jöckel warnt davor, kleine, gesunde Kinder zu impfen. Schließlich könne eine Impfung „potenziell tödliche Nebenwirkungen“ haben
  • Uniklinik und Stiftung verweisen darauf, dass Jöckel nicht in offizieller Funktion spreche Der Vorsitzende der Stiftung Universitätsmedizin Essen, Prof. Dr. Karl-Heinz Jöckel, ist Mitverfasser und Erstunterzeichner eines bemerkenswerten Aufrufs gegen die Impfpflicht. Wissenschaftler und Mediziner aus ganz Deutschland weisen darin nicht nur eine allgemeine Impfpflicht, sondern auch eine für medizinisches und Pflegepersonal als „unhaltbar“ zurück. Mehr noch: Im Aufruf heißt es, es gebe keine wissenschaftlichen Daten, die belegten, dass die Impfung für jeden Bürger „mehr Nutzen als Schaden stiftet“. Für einige Gruppen bedeute eine Impfpflicht sogar, dass sie eine „Körperverletzung“ hinnehmen sollten. Die Unterzeichner zweifeln auch an, dass es eine medizinische Notlage in Deutschland gebe.

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Die Aussagen, die Jöckel „rein als Privatmann und Wissenschaftler“ gemacht hat, stehen in krassem Widerspruch zur Politik der Uniklinik Essen, die von der Stiftung Universitätsmedizin millionenschwer unterstützt wird. So hatte der Ärztliche Direktor des Uniklinikums, Prof. Dr. Jochen A. Werner, vor einem Monat erklärt, 85 Prozent der gut 10.000 Mitarbeiter seien geimpft, demnach gebe es noch eine relevante Zahl Ungeimpfter. Ab sofort stelle man daher nur geimpftes Personal ein, um eine Infektionsgefahr für die Patienten zu vermindern.

Professionelle Hygiene verhindere Corona-Ausbrüche weitgehend

Im von Prof. Jöckel mitverfassten Aufruf steht, es gebe „niederschwellige Maßnahmen, die den gleichen Zweck erfüllen“. Die Impfpflicht für Klinikpersonal sei ein unverhältnismäßiger Eingriff des Staats in die persönliche Entscheidungsfreiheit. Nach einer Einübungszeit zu Beginn der Pandemie sei „die professionelle Hygiene dieser Berufsgruppen ausreichend, um Ausbrüche weitestgehend zu verhindern“. Da auch Geimpfte andere anstecken könnten, erfordere ein effektiver Infektionsschutz ohnehin, das Personal regelmäßig zu testen.

„Für den Patienten ist der einzelne Nichtgeimpfte ein Risiko, und zwar ein viel höheres als ein Geimpfter“, sagt der Ärztliche Direktor der Uniklinik Essen, Prof. Dr. Jochen A. Werner.
„Für den Patienten ist der einzelne Nichtgeimpfte ein Risiko, und zwar ein viel höheres als ein Geimpfter“, sagt der Ärztliche Direktor der Uniklinik Essen, Prof. Dr. Jochen A. Werner. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die Uniklinik mag darauf nicht allein vertrauen. „Für den Patienten ist der einzelne Nichtgeimpfte ein Risiko, und zwar ein viel höheres als ein Geimpfter“, sagte Direktor Werner Mitte November und forderte von der Politik eine klare Vorgabe, „dass in Bereichen mit vulnerablen Gruppen in Krankenhäusern und Pflegeheimen nur geimpftes Personal arbeiten sollte“. Ein Votum für die berufsbezogene Impfpflicht.

Applaus von der falschen Seite

Werner und auch der Chefvirologe der Uniklinik, Ulf Dittmer, hatten wiederholt an Bürger und Bürgerinnen appelliert, sich impfen zu lassen. Der Schutz überwiege bei weitem das Risiko der sehr selten auftretenden Nebenwirkungen. Der Aufruf mahnt nun indes, dass für gesunde Kinder, junge Erwachsene oder Frauen im ersten Drittel der Schwangerschaft „ein Schaden [...] mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzunehmen“ sei. Für sie komme die Impfpflicht einer Körperverletzung nah.

Ihn bekümmere, wenn der Aufruf im Netz Applaus von Corona-Leugnern oder Querdenkern erhalte, betont Jöckel im Gespräch. „Man wird schnell in den falschen Topf geworfen.“ Oder ignoriert: Von den angeschriebenen Tageszeitungen habe erst keine reagiert.

Epidemiologe warnt, kleine, gesunde Kinder zu impfen

Er sei kein Impfgegner, wolle nur, dass sich jeder frei entscheiden dürfe. Wer Ungeimpfte zur Kasse bitte, könne mit derselben Logik auch Übergewichtige mit Zwangsgeld belegen, weil sie ein größeres Risiko für einen schweren Verlauf haben. Der wachsende Druck, sich impfen zu lassen, ärgere ihn. „Jede medizinische Intervention hat Nebenwirkungen, auch Impfen. In diesem Fall gibt es sogar potenziell tödliche Nebenwirkungen“, so Jöckel. „Wieso sollte man gesunde Kinder impfen, obwohl das für sie keinen Nutzen hat, aber die Gefahr einer Herzmuskelentzündung birgt?“

Jöckel ist kein Mediziner, er hat Mathematik und Betriebswirtschaft studiert und lehrt Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie an der Uni Duisburg Essen. Er nennt es fatal, dass Virologen und Intensivmediziner die Debatte bestimmten. Sie stellten die Impfung aller Bürger als alternativlos dar. „Als wäre das die Lösung für alle Probleme.“ Als Epidemiologe wisse er, dass es mildere Mittel zur Eindämmung der Pandemie gebe, etwa die Testungen. Darum sei es irrwitzig, die Testpflicht für Geboosterte zu streichen, schließlich könnten sie unbemerkt andere anstecken.

Nicht Covid sei am Pflegekräfte-Mangel schuld, sondern die Politik

In Zeiten, da es an Intensivbetten fehlt, Operationen verschoben werden und von Triage die Rede ist, schreiben Jöckel und seine Mitstreiter: „Die immer wieder postulierte ,Notlage’ ist hypothetisch und muss nach fast zwei Jahren in einem der bestentwickelten Gesundheitssysteme der Welt als unrealistisch betrachtet werden.“ Sollte es trotzdem zu Versorgungsengpässen kommen, sei nach der politischen Verantwortung zu fragen: Dass heute Pflegekräfte fehlten, liege nicht an Covid, sondern daran, dass man in der Pflege jahrelang gespart habe.

Uniklinik-Chef Werner, der auch im Kuratorium der Stiftung sitzt, hatte dagegen jüngst von einer „kritischen Pandemie-Lage“ gesprochen, in der sich das Haus befinde. Zu Jöckels Thesen mag er sich nicht äußern. Die Uniklinik teilt nur mit: „Prof. Jöckel hat diesen Aufruf augenscheinlich als Wissenschaftler und Privatperson unterzeichnet.“ Auch die Stiftung betont, er sei keinesfalls als ihr Vertreter aufgetreten. Denn: „Die Stiftung verhält sich seit jeher neutral und unparteiisch.“ Den Satz unterschreibt auch Jöckel: „Mir ist die Neutralität der Stiftung wichtig: Wir helfen, wo wir können.“ Der Uniklinik Essen in diesem Jahr mit gut drei Millionen Euro.