Essen. Kinder ab 12 können gegen Corona geimpft werden, doch Kinderärzten in Essen fehlt Impfstoff. Und: Experten streiten, ob die Impfung sinnvoll ist.
Seit gut einer Woche können Kinder ab zwölf Jahren geimpft werden. „Doch wir haben deutlich mehr Anfragen als Impfstoff“, erklärt der Obmann der Essener Kinderärzte Dr. Ludwig Kleine-Seuken. Den Nutzen der Impfung für Kinder beurteile er ohnehin zurückhaltend. Dagegen rät Prof. Dr. med. Christian Dohna-Schwake von der Uniklinik klar zu: Kinder seien die Zukurzgekommenen der Pandemie. „Die Gesellschaft sollte ihnen endlich wieder die dauerhafte soziale Teilhabe ermöglichen. Dazu gehört, dass jeder, der sich impfen lassen möchte, auch die Möglichkeit bekommt.“
Kindergesundheit hat in der Pandemie extrem gelitten
Dohna-Schwake, ist Facharzt für Kinderheilkunde und Leitender Oberarzt der Pädiatrischen Intensivmedizin an der Uniklinik Essen und erlebt dort, wie sehr die Kinder gesundheitlich, mental und sozial unter der Pandemie leiden. Dass die Ständige Impfkommission (STIKO) nur eine eingeschränkte Impf-Empfehlung ausgesprochen hat, wonach vor allem Kinder mit Vorerkrankungen geimpft werden sollen, greife zu kurz. Das Gremium rechne vor, dass 100.000 Heranwachsende zwischen 12 und 17 geimpft werden müssten, um einen Todesfall in dieser Altersgruppe zu verhindern – das sei eine zu schematische Sicht.
„Die reinen Zahlen wie Todesfälle oder Impfkomplikationen sagen in dem speziellen Fall wenig darüber aus, wie sehr die Kindergesundheit in der Pandemie gelitten hat. Erkrankungen, die durch Deprivation, Isolation, häusliche Gewalt, Vereinsamung und fehlende soziale Kontakte bei Kindern entstanden sind, werden in diesen Zahlen nicht berücksichtigt.“ Sehr gelitten hätten Kinder aus ärmeren Familien.
Geimpfte Kinder können am normalen Leben teilhaben
Im Corona-Jahr habe die Zahl der Essstörungen stark zugenommen, die Zahl der Kinder mit Depressionen habe sich verdoppelt: „Ich finde das dramatisch“, sagt der Mediziner. Eine Impfpflicht halte er nicht für den richtigen Weg, aber: „Wenn mich jemand aus dem privaten Umfeld fragt, würde ich ihm in den meisten Fällen raten, sein Kind impfen zu lassen. Ein geimpftes Kind kann wieder weitgehend zum normalen Leben zurückkehren, was ich in Anbetracht der alarmierenden Zahlen für sehr wichtig halte.“
Viele der Beobachtungen kann Kleine-Seuken aus seiner Praxis bestätigen: Schon vor Wochen haben die gut 40 Essener Kinderärztinnen und Kinderärzte in einem Brandbrief darauf aufmerksam gemacht. „Die Familien wollen endlich ihren Alltag zurück“, sagt auch er. Dabei gehe es nicht einmal vorrangig um den Sommerurlaub. „Die Eltern wollen, dass ihre Kinder endlich in Kitas und Schulen zurückkehren können.“
Daher riefen nun viele wegen eines Impftermins in den Praxen an und würden meist enttäuscht: Es fehlt weiter an Impfstoff. Am Telefon werde um Termine gefeilscht, der Frust sei groß. Dabei habe er noch nicht mal alle seine jungen Patientinnen und Patienten mit Vorerkrankungen zum zweiten Mal geimpft.
Essener Kinderarzt empfiehlt, zuerst alle Erzieher und Lehrer zu impfen
Während der Kinderarzt im Mai die rasche Impfung von Jugendlichen ab 16 Jahren forderte, rät er Eltern jüngerer Kinder, noch zu warten. So lange es keine allgemeine Empfehlung der STIKO gebe, müsse man ihnen die Impfung zwingend zumuten. „Es kann nicht am Impfstatus der Kinder liegen, ob es in Kitas und Schulen in Regelbetrieb gibt. Ich werbe sehr für die Impfung: von Erziehern und Lehrern.“
Der Leiter des Essener Impfzentrums, Dr. Stefan Steinmetz, ergänzt, dass es ja schon Signale für einen Schulalltag ohne Maske gebe. Er halte es daher mit der STIKO, Kinder mit Asthma und Co. zu impfen. Für gesunde Kinder sei der medizinische Nutzen der Impfung begrenzt, da sie seltener an Covid-19 erkranken und die Verläufe meist mild seien. Dem stünden ungewisse Risiken gegenüber, da die Studien zu möglichen Folgen der Impfung noch dünn seien, so Steinmetz. „Die Kinder dürfen nicht dazu herhalten, eine hohe Impfquote zu erreichen.“
Eine Argumentation, der Dohna-Schwake nicht folgen mag: Auch bei Kindern gebe es schwere Verläufe von Covid-19-Erkrankungen: „Bundesweit mussten bisher mindestens 250 Kinder intensivmedizinisch behandelt werden. Kinder mit PIMS, einer Spätfolge von Corona, bei der das Immunsystem der Patienten quasi Amok läuft, sind schwerstkrank mit einem Multiorganversagen.“
Und auch bei Jugendlichen gebe es schwere Spätfolgen – selten, aber mit steigender Tendenz. Junge Long-Covid-19-Patienten und -Patientinnen leiden an unerklärter Erschöpfung, Schwäche, Schmerzen und schweren Konzentrationsstörungen, die den Schulbesuch unmöglich machen.
Lange Wartezeiten auf einen Termin beim Jugendpsychiater
Dagegen halte er die Risiken der Impfung für eher gering: „In England und den USA sind bereits viele Jugendliche geimpft: Wenn es da zu kurzfristigen Komplikationen kommt, bekommen wir das schnell mit. Es gibt möglicherweise einzelne Fälle einer Herzmuskelentzündung, wie sie auch bei einer Covid-19-Erkrankung auftreten kann, aber die Wahrscheinlichkeit einer solch schwerwiegenden Komplikation scheint gering.“ Über möglich Langzeitfolgen könne man noch nichts sagen.
Realität sei indes, dass Teenager mit psychischen Problemen bis zu sechs Monate auf einen Termin bei Jugendpsychiater oder Psychologin warten: „Nur wer suizidal ist, erhält sofort den Termin. Etwas salopp gesagt, ist das derzeit die einzige Triage, die coronabedingt stattfindet.“
Man müsse daher alles tun, damit Kinder wieder dauerhaft zu Schule und Sport kommen – selbst wenn die Zahlen wieder steigen sollten. „Wenn die vollständig geimpfte ältere Generation jetzt auf Kreuzfahrt gehen kann, müssen unsere Kinder auch zu Konfirmationsunterricht oder Theater-AG in Präsenz“.