Essen. Theater gegen soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung: Wie Volker Lösch Zukunftsfragen am Beispiel eines Essener Großbauprojekts verhandelt.

Lessing, Schiller und auch die zeitgenössischen Autoren haben bei Volker Lösch weitgehend ausgedient. Dem Ernst der Lage entsprechend, kreiert Lösch seine Gegenwarts- und oft auch Orts-bezogenen Stoffe mittlerweile lieber selber. Denn der Regisseur begreift Theater nicht bloß als moralische Anstalt. Im Lösch-Kosmos ist die Bühne auch ein Ort der Revolte, wo sich Arbeitslose und Flüchtlinge, alleinerziehende Mütter und Hartz-IV-Empfänger erheben.

Im Essener Grillo-Theater sollten diesmal eigentlich Menschen zu Wort kommen, die von Mietwucher, Wohnungskündigung und Zwangsräumung betroffen sind. Doch Pandemie und Weltlage haben Löschs Blick auf die aktuellen Missstände geweitet. So geht es am Freitag, 17. Dezember, ums große Ganze – den Klimawandel, das Kapital, zerstörerische Wachstumslogik und fortschreitende soziale Ungleichheit. „AufRuhr!“ lautet der kämpferische Titel, und die Geschichte, die Lösch zusammen mit Christine Lang und Ulf Schmidt erdacht hat, endet gar in der „Schlacht um Altendorf“.

„Essen ist die ungleichste Stadt Deutschlands“ sagt Volker Lösch

Den Essener Norden hat Lösch schon 2018 in den Blick genommen. Damals wurde aus Mark Twains Märchen vom Prinzen und dem Bettelknaben ein Rollentausch von Jugendlichen diesseits und jenseits des „Sozialäquators A 40“ – inklusive Mauerfall. Und weil Essen laut Lösch immer noch „die ungleichste Stadt Deutschlands ist“, entspinnt sich der Konflikt auch diesmal zwischen dem armen Norden und dem reichen Süden.

Mit im Spiel: ein ehrgeiziger SPD-Oberbürgermeister, eine knallharte Investorin, eine einflussreiche Bauunternehmerin und ein milliardenschweres wie zukunftsweisendes Megaprojekt im Essener Norden mit viel komfortablem Wohnraum für jene, die sich das leisten können. Die bislang den billigen Wohnraum genutzt haben, sollen weg. Doch der Plan geht nicht auf. Auf die angeordnete Zwangsräumung folgt breiter Widerstand, dem sich Rentner Grube und Blogger Dimitrij genauso anschließen wie die idealistische Bauunternehmer-Tochter Lena. So entbrennt sie schließlich, „die Schlacht um Altendorf“. Es soll fast so sein vor 101 Jahren, als der „Ruhrkampf“ auch in Essen tobte und Löschs Stück nun das historische Gerüst verleiht.

„Wir müssen den Wachstumsgedanken in Frage stellen, um den Planeten zu retten“

„Essen 5.0“ heißt dabei das fiktive Bau-Projekt, das nicht zufällig an das tatsächlich geplante neue Viertel im nördlichen Krupp-Gürtel namens „Essen 51“ erinnert. Dort soll, angrenzend an die Stadtteile Altendorf, Bochold und Nordviertel, in den kommenden Jahren praktisch ein ganz neuer Stadtteil entstehen. „Eines dieser sinnlosen Großprojekte, die keiner braucht. Die vor allem dazu da sind, Immobilienwirtschaft und Bauindustrie am Leben zu halten, anstatt nachhaltig mit den Ressourcen umzugehen“, findet Lösch.

Großprojekte wie diese sind für Lösch mit einem überholten Wirtschaftsdogma verbunden, „der an ewiges Wachstum gekoppelt ist und an den Ausbau des Hyperkapitalismus, anstatt jetzt gemeinsam die Notbremse zu ziehen und zu sagen: Wir müssen den Wachstumsgedanken in Frage stellen, um den Planeten zu retten, schon allein aus Verantwortung unseren Kindern gegenüber. Das findet aber nicht statt.“

Wie so oft lässt Lösch deshalb die unmittelbar Betroffenen vortreten. „AufRuhr“ verschafft jungen Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Ruhrgebiet und nicht nur aus der Fridays-for-Future-Szene den großen Auftritt. Coronabedingt allerdings nicht live im Theater, wie zunächst geplant. Ihre abgefilmten Interviews werden auf Leinwände projiziert. „Es ist eine kollektive Widerstandsstimme der jungen Generation“, sagt Lösch.

Das Grillo-Theater wird zur Raumbühne umfunktioniert – mit zehn großen Leinwänden

Um das aufwendig inszenierte Zusammenspiel von Live-Theater und Filmeinspielung möglich zu machen, hat das Schauspiel Essen technisch mächtig aufgerüstet. Insgesamt zehn Leinwände stehen verteilt im Theatersaal, der zur großen Raumbühne umgewandelt wird. Statt auf Theaterstühlen sitzt das Publikum auf Drehhockern. Die Raumbühne sei nun mal „die demokratischste Form des Theaters. Man hat die komplett freie Wahl, hinzuschauen, wohin man möchte. Das ist ein anderes Gefühl des Zusehens, des Partizipierens. Wir wollen weg von der Guckkastenbühne, die ja was Totalitäres hat, weil sie den Blick lenkt“, erklärt Lösch. Weil der Umbauaufwand für pandemiebedingt nur knapp 50 Prozent der Zuschauer enorm ist, wird „AufRuhr“ immer an zwei Tagen in Folge gespielt.

Volker Lösch bricht die vierte Wand auch auf, indem er aus dem Theater heraus filmisch in den Essener Stadtraum vordringt. Gedreht wurde beispielsweise am Steeler Wasserturm, einem wichtige Schauplatz des Ruhrkampfes 1920 oder am mittlerweile zum Mahnmal umgemünzten und von den Nazis 1945 eingeweihten Ruhrkämpfer-Denkmal an der Ruhr, das an die blutige Niederschlagung des Arbeiter-Aufstands erinnert. „Uns war wichtig, an Orten zu drehen, die wiederzuerkennen sind“, sagt Lösch. „Es gibt eine Autofahrt durch den Norden und eine durch den Süden. Wir haben auch unter Tage gedreht, im Rathaus, in der Fußgängerzone.

Kinderinitiative „Frohnhausen for Future“ denkt über Systemveränderung nach

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Die Uraufführung von „AufRuhr“ ist am 17. Dezember, 19 Uhr, die Folgevorstellung am 18. Dezember, 19 Uhr. Weitere Termine: 6./7. sowie 21. und 22. Januar. Tickets unter Tel. 0201 8122-200 und online www.theater-essen.de

Regisseur Volker Lösch ist in Essen kein Unbekannter: In den vergangenen Jahren sorgte er unter anderem mit „Rote Erde (2012), „Das Prinzip Jago“ (2016) und „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“ (2018) für Furore.

Ein Tunnelsystem weist im Stück den Ausweg aus dem Dilemma. „AufRuhr“ will bei aller Rückschau eben auch eine gesellschaftliche Utopie entwickeln. „Der Widerstand formiert sich, das ist ein utopischer Punkt, weil es in der Realität noch nicht stattfindet. Es gibt viele Probleme, aber die Menschen sind noch nicht bereit, gemeinsam dagegen vorzugehen“, erklärt Lösch

Im Stück rufen sie, orientiert an der Räterepublik im Ruhrgebiet 1920, am Ende die „Autonome Republik Ruhr“ aus. Welche Lebens- und Gesellschaftsmodelle abseits der Bühne umsetzbar sind, das wird auch Sache der Aktivistinnen und Aktivisten sein, die Lösch eingebunden hat. Darunter ist auch die Kinderinitiative „Frohnhausen for Future“. „Was die Neunjährigen über Systemveränderung sagen, ist schlagend klar und sehr interessant.“