Essen. . Theater über die soziale Ungleichheit: Lösch-Stück hat Schüler aus dem Norden und dem Süden zusammengebracht. Vier Akteure erzählen.
Auf der Bühne wissen Lars, Diyar, Julia und Selina inzwischen ganz genau, wie man soziale Unterschiede überwinden kann: Leiter unterm Arm, rauf über die Mauer und einfach mal in die Rolle des Gegenübers geschlüpft. Aus den armen Jugendlichen im Norden werden so privilegierte Firmen-Erben, aus den behüteten Jungen und Mädchen der südlichen Stadtteile krisengestählte Ghettokids, die den Zuschauern im zweigeteilten Bühnenraum manchmal nicht nur rhetorisch auf die Füße treten.
Weil sich die sozialen Verhältnisse zumindest im Theater probeweise mal umdrehen lassen, hat Regisseur Volker Lösch im Schauspielhaus Essen ein Stück über das Nord-Süd-Gefälle gemacht, das nach jüngsten Umfragen immer mehr Essener als problematisch wahrnehmen. Für „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“, sein Märchen über die soziale Ungerechtigkeit frei nach Mark Twain, hat er Jugendliche aus dem Süden und dem Norden auf der Bühne zusammengebracht.
Längst ist aus dem gecasteten Ensemble ein eingeschworenes Theater-Trüppchen geworden, das sich am kommenden Freitag von der Grillo-Bühne verabschiedet, aber nicht von diesem neuen Gemeinschaftsgefühl.
Die A40 wird zum Stück zum „Sozialäquator“
Für die 16 Teenager unterschiedlicher sozialer Schichten war das Bühnenprojekt dabei anfangs zumeist die Begegnung mit einer weitgehend unbekannten Welt. Die A 40, die Lösch in seinem Stück zum „Sozialäquator“ erklärt, zur Trennlinie zwischen dem wohlhabenden Süden und den nördlichen Stadtteilen – sie ist auch im echten Leben eine unsichtbare Grenze.
Dem 17-jährigen Lars kommt es heute manchmal vor, als habe er auf einer Insel gelebt, südlich dieses Sozialäquators. „Im SoWi-Unterricht haben wir das Thema soziale Ungleichheit zwar behandelt und man kriegt natürlich auch sonst einiges mit - wie zuletzt beispielsweise über die Probleme der Essener Tafel. Aber eigene Erfahrungen sammelt man nicht.“ Zum Lasertag-Spielen sind sie mal in den Norden gefahren. Aber richtig wahrgenommen haben sie die verschiedenen Lebenswelten nicht. „Man hat wenig Kontakt zu Leuten im Norden“, sagt auch Julia.
„Mir ist früher nie aufgefallen, dass da so’n Unterschied ist“
Das hat sich geändert. Als Grenzgänger in der eigenen Stadt haben sie kennengelernt, was außerhalb der Nachbarschaft ist: Spielhallen und Wettbüros im Essener Norden, während die organisierte Fahrt im Süden durchs Villenviertel Brucker Holt führte. Scharfe Realitäts-Kontraste, die auch in den Interviews deutlich werden, die Lösch mit allen Jugendlichen als Vorbereitung zum Stück geführt hat. Berichte voller Gegensätze zwischen Grashof-Gymnasium und Gesamtschule Bockmühle, zwischen Bildungsbürger-Ansporn und Schulverweigerer-Problemen, zwischen Luxus und Leistungsdruck, zwischen elterlicher Arbeitslosigkeit und Hartz IV-Alltag.
„Mir ist früher nie aufgefallen, dass da so’n Unterschied ist“, erzählt Selina, die im Nord-Ost-Gymnasium zur Schule geht und bei aller anfänglichen Nervosität nun Abend für Abend auf die Bühne stürmt, den Zuschauern fest ins Auge blickt und denen da drinnen im Theater vom Leben da draußen in chorisch gesprochenen Texten berichtet. Auch Diyar, der syrische Flüchtling, der zunächst als Seiteneinsteiger am Burggymnasium Deutsch paukte, hat seine Erfahrungen in die Textvorlage mit einfließen lassen. Die Debatte um arm und reich nimmt er noch einmal aus einer etwas anderen Perspektive wahr. „Was in Deutschland schlimm ist, ist in Syrien noch viel schlimmer.“
Ein Rollentausch, der mit Bestnoten endet
Für die einen ist das Theaterprojekt so zum Schnellkurs in Sachen deutsche Lebenswirklichkeit geworden, für die anderen ist es Aufforderung, über notwendige Veränderungen nachzudenken. „Wir können uns nicht darauf ausruhen, dass es uns Deutschen doch gut geht, sonst würde es solche Stücke ja nicht geben“, findet Julia. Gemeinsam mit Regisseur Volker Lösch und den Profi-Schauspielern haben sie deshalb nach Visionen für mehr soziale Gerechtigkeit gesucht. Lars denkt dabei schon ganz global und würde am liebsten versuchen, „alle auf ein gewisses Wohlstandslevel zu kriegen“.
Selina tut sich mit konkreten Vorschlägen noch schwer, „weil man ja realistisch bleiben muss“. Diyar will nun vor allen Dingen weiter Theater machen, sein Vater war nach der Premiere sehr stolz. Julia weiß jetzt, mit welcher Einstellung sie durchs Leben und noch mehr auf Menschen zugehen will: „Ich habe während der Theaterarbeit unglaublich viel gelernt.“ Nicht nur in SoWi, Politik und Deutsch. Für die meisten war das Lösch-Stück auch ein Leistungskurs in Sachen sozialem Miteinander. Ein Rollentausch, der mit Bestnoten endet.
>> Viele ausverkaufte Vorstellungen
Volker Löschs „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“ hat in den vergangenen Monaten fast immer vor ausverkauftem Haus stattgefunden. Auch die letzte Vorstellung am Freitag, 29. Juni, im Grillo-Theater ist bereits ausverkauft.
Besonderer Coup der Inszenierung ist die durch eine Mauer geteilte Bühne, die das Nord- und Süd-Gefühl vermitteln soll. Während das Publikum im ersten Teil auf dem Bühnenboden sitzt, kann man nach der Pause auf weiche rote Sessel wechseln.