Essen. Carsten Bluhm ist neuer Leiter des Essener Jugendamtes. Bis heute erzählt er gern, dass er früher einmal als „Quotenmann“ eine Stelle bekam.

Ob Kita, Hort, Jugendheim oder Familienhilfe – Carsten Bluhm kennt praktisch jeden Arbeitsplatz, den das Essener Jugendamt zu bieten hat. Jetzt nimmt der 54-Jährige im Chefsessel Platz, was in dieser Behörde mit wenig Glanz und großer Verantwortung verbunden ist: Viele Menschen begegnen den amtlichen Kinderschützern mit Argwohn, und für alle anderen ist das Jugendamt immer schuld, wenn einem Kind ein Leid geschieht.

Bluhm ist mit dem Spannungsfeld zwischen Inobhutnahme und Familiendrama vertraut, aber aus seiner Zeit beim Allgemeinen Sozialdienst (ASD) auch mit all den Graustufen dazwischen: „Belastung gibt es in Familien auch jenseits eines gefährlichen Brodelns. Oft handelt es sich nur um eine temporäre Überforderung.“ Mancher nehme die Hilfe des Jugendamtes da durchaus dankbar an, erlebe sie als Hilfe zur Selbsthilfe. „Ihr Recht auf Hilfe zur Erziehung“ heiße eine Broschüre, nicht „ihre Pflicht“.

Manchmal kann man vermitteln, manchmal geht es durch alle Gerichte

Für diese Aufgabe brauche man nicht nur das Jugendrecht, sondern auch eine gute Gesprächsführung. Man begegne Menschen, die Grenzerfahrungen machen, bei Krankheit, Trennungen, Streit um das Sorgerecht. Oft habe es schon Vertrauen geschaffen, dass er sagen konnte, er sei selbst Vater von zwei Kindern.

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Essens Jugendamtsleiter Carsten Bluhm als junger Erzieher in der Kita.
Essens Jugendamtsleiter Carsten Bluhm als junger Erzieher in der Kita. © Unbekannt | Privat

„Manchmal kann man den Eltern vermitteln, die Perspektive des Kindes einzunehmen, dann reichen ein, zwei Gespräche“, sagt Bluhm. Und ja: „Manchmal eskaliert es schwer, geht durch alle Gerichte.“ Das seien die Fälle, die Aufmerksamkeit erregen, der Alltag sei das nicht. „An vielen Stellen arbeiten wir hinter den Kulissen, ohne das große Ticket Kinderschutz. Das ist die Mehrzahl der Fälle.“ Im Kern sei das in Heisingen und Überruhr nicht anders als in Katernberg. Er war für den ASD hier wie dort.

Geprägt ist er durch die Jugendarbeit, „die christliche und die der Falken“; von beiden wollte er das Beste. Machte Zivildienst, eine Ausbildung zum Erzieher, arbeitete in einer Kita, wie übrigens die meisten der heute 1800 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Jugendamtes. Vor 30 Jahren war er der Exot, im ganzen Erzieherinnenjahrgang habe es zwei, drei Männer gegeben. Er war nicht so sehr der Mann für die Krabbelgruppe, für die kleinen Kinder und mit 1,86 m noch weniger für die kleinen Stühle. Doch zu den Kitas gehörten damals noch die Horte, in denen nachmittags Schüler betreut wurden. „Dass die abgeschafft wurden, fand ich sehr schade.“

Bewerbungsgespräch lief anders als erwartet

Er wechselte ins Bürgerhaus Oststadt, studierte nebenbei Sozialarbeit: In der Jugendarbeit habe man oft abends und am Wochenende gearbeitet, dafür hatte er häufig dienstfrei, wenn die Vorlesungen liefen. „Als ich das Studium abgeschlossen hatte, hatte ich das Gefühl, mich zu weit von der Lebenswelt der Jugendlichen entfernt zu haben.“ Die Zivis seien näher dran gewesen, mit ihren Handys, ihrem Habitus.

Bluhm ging folglich zum Allgemeinen Sozialdienst, bei dem er viele Positionen bekleidete, den er schließlich leiten sollte. Bei einem Karriereschritt auf dem Weg dahin, fühlte er sich gut gewappnet: „Ich wusste inzwischen ziemlich viel über die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Familien.“ Deswegen nehme sie ihn nicht, habe seine damalige Vorgesetzte abgewehrt: „Ich nehme Dich, weil Du ein Mann bist.“ Bluhm hat es nicht gestört, der „Quotenmann“ in der weiblich dominierten Jugendarbeit zu sein, im Gegenteil: Er habe die Geschichte später oft in Begrüßungsgesprächen mit jungen Kollegen erzählt, um ihnen Mut zu machen.

15-Stunden-Tage während der Flüchtlingskrise

Er hat verschiedene Leitungspositionen gehabt und für zwei Jahre an der Uni gelehrt, er kennt sämtliche Dauerbaustellen (Kita-Ausbau, Fachkräftebedarf), hat viel Routine erworben – und Situationen erlebt, für die es keine Routinen gibt. Als 2015 die Flüchtlinge ins Land strömten, waren das für ihn nicht bloß Fernsehbilder, sondern Jungen, die auf den Fluren des Amtes saßen. „Was macht man, wenn alle Jugendeinrichtungen belegt sind?“ Es habe da 15-Stunden-Tage gegeben, aber sie haben für jeden ein Bett gefunden. Wie gut sie die jungen Menschen begleitet haben, wird sich nach und nach zeigen: „Ich hoffe, dass wir vieles richtig gemacht haben.“

Planung und Improvisation. Dass es immer beides braucht, musste Carsten Bluhm Anfang des Jahres auf brutale Weise erfahren. Er hatte sich auf die Amtsleiterstelle beworben, sein Vorgänger Ulrich Engelen sollte noch einige Monate im Amt bleiben; geplant hatten sie einen „sanften Übergang“. Doch dann verstarb der 65 Jahre alte Engelen plötzlich und unerwartet. Es treibe ihm noch immer die Tränen in die Augen, wenn er daran denke.

Jetzt planen sie für die Zeit nach der Pandemie

Sie seien beide voller Hoffnung gewesen, hätten angefangen, für die Post-Corona-Zeit zu planen. Und das Gefühl gehabt, in der Pandemie manches gestemmt zu haben: Nah bei den Kindern zu bleiben, die aus Kita und Schule verschwunden waren. „Da sind nicht nur die Familien, sondern auch die Mitarbeiter schon mal an ihre Grenzen gelangt.“ Aber beide Seiten hätten oft die Erfahrung gemacht: „Es ist erstaunlich, was man alles hinkriegt.“