Essen. Fast 20 Prozent mehr Anrufe beim Kinder- und Jugend-Not-Telefon. Mehr Fälle von Essstörung. Der Lockdown schadet Kindern und Jugendlichen sehr.
Kinder und Jugendliche leiden massiv unter den Folgen der Isolation durch Corona. Die Zahl der Anrufe beim Essener Kinder- und Jugend-Nottelefon ist im Corona-Jahr 2020 um fast 20 Prozent gestiegen. Außerdem wächst die Zahl der Schüler, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikums an der Wickenburgstraße (Frohnhausen) vorstellig werden. „Das ganze Ausmaß der Folgen von Corona“, so betonen Experten, „wird sich erst zeigen, wenn die Pandemie bewältigt ist.“
Nachdem Essener Kinderärzte bereits im Februar einen erschütternden Brief an den Oberbürgermeister schrieben und damit ein bundesweites Echo auslösten, sind auch die Befunde anderer Fachleute eindeutig: „Durch den verschärften Lockdown seit Dezember 2020“, konstatierte Gesundheitsdezernent Peter Renzel in der letzten Ratssitzung, „werden Belastungsmomente innerhalb von Familien noch deutlicher als zuvor sichtbar.“ Betroffen seien Familien aller gesellschaftlichen Schichten mit Kindern jeden Alters.
Die Nummer 0201 265050 rufen nicht nur Kinder und Jugendliche an
Das Kinder- und Jugend-Nottelefon wird von Jugendamt und dem Diakoniewerk betrieben. Die Nummer 0201 265050 ist rund um die Uhr besetzt, auch nachts und an Wochenenden und Feiertagen. „Die Zahl der Anrufe ist von 1422 im Jahr 2019 auf 1677 im Corona-Jahr 2020 gestiegen“, berichtet Carsten Bluhm, der neue Leiter des Jugendamtes. Das sind 18 Prozent mehr. Es rufen nicht nur Minderjährige an, die sich in akuten Notlagen befinden. „Oft melden sich auch Nachbarn oder die Polizei – zum Beispiel dann, wenn sie einen Ausreißer finden, der sagt, dass er nicht mehr nach Hause will.“ Manchmal meldeten sich auch Eltern, die nicht mehr weiterwissen.
In Corona-Zeiten fallen Lehrer, Erzieher, Trainer und andere Erwachsene weg, die sonst immer mit Kindern zu tun haben und bei einem entsprechenden Verdacht das Kinder- und Jugend-Nottelefon verständigen. Umso aussagekräftiger ist es, dass die Zahl der eingehenden Anrufe im Corona-Jahr trotzdem so deutlich gestiegen ist. „Das hat sicher auch damit zu tun, dass unsere Nummer heute wegen des Internets leichter als früher auffindbar ist“, sagt Nicole Maßelink von der Jugendschutzstelle des Diakoniewerks Essen. Sie bestätigt, dass Corona und seine Auswirkungen zu deutlich mehr Streit in vielen Familien führen.
Zahl der Hausbesuche hat ebenfalls zugenommen
Zugenommen hat auch die Zahl der Hausbesuche, die Mitarbeiter des Kinder- und Jugend-Nottelefons absolvieren, wenn vor Ort eine Eskalation droht: „Im ersten Quartal 2020 - also noch vor Corona - gab es 64 Hausbesuche, im ersten Quartal 2021 waren es 100 Hausbesuche“, berichtet Nicole Maßelink. Ein Hausbesuch dient zunächst der Klärung eines Konflikts.
„Auf unseren Jugendstationen steigt der Aufnahmedruck“, berichtet auch Johannes Hebebrand, der Ärztliche Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikums. Die Ambulanz registriert etwa zehn Prozent mehr Anfragen als vor Corona. „Auffällig ist“, sagt Hebebrand, „dass vor allem weibliche Jugendliche mit Essstörungs-Symptomen vermehrt zu uns kommen.“ Die Ursache liege in der deutlich verringerten Anzahl von Kontakten; Belohnungen wie gute Schulnoten blieben aus. Auch Depressionen von Jugendlichen seien mehr geworden, „werden aber von Eltern häufiger nicht als solche erkannt.“ Sie würden oft erst dann deutlich, wenn ein Leistungs-Abfall in der Schule einsetzt.
Grundsätzlich bestehe derzeit das Problem, dass „Jugendliche nur bedingt dazu in der Lage sind, für sich selbst Hilfe einzufordern.“ Die Störungen der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, da ist sich auch Hebebrand sicher, würden sich längerfristig auswirken und teilweise erst nach der Pandemie entdeckt werden.