Essen. Das Essener Jugendamt hat gut 200 Kinder in die Notbetreuung in Kitas und Schulen geholt: um die Familien zu entlasten und die Kinder zu schützen.
Als das öffentliche Leben heruntergefahren und die Gesellschaft quasi unter Hausarrest gestellt wurden, befürchteten Experten einen baldigen Anstieg der häuslichen Gewalt. Der ist bisher ausgeblieben, auch das Essener Jugendamt verzeichnet keine Steigerung der Inobhutnahmen.
„Vielleicht wird uns aber nur weniger gemeldet, weil die Kinder keinen Kontakt zu Verwandten und Nachbarn haben und gleichzeitig die Betreuungsangebote geschlossen sind“, vermutet Jugendamtsleiter Ulrich Engelen. Die Kinder sind unsichtbar. Daher hat das Amt nun 200 Kinder in die Notbetreuung in Kitas und Schulen geholt.
Die war zunächst nur für Kinder gedacht, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten, also etwa als Ärztin oder Altenpfleger. Seit etwa zwei Wochen dürfen dort auch Kinder betreut werden, die im Fokus des Kinderschutzes stehen. Sprich: Der Allgemeine Soziale Dienst des Jugendamtes (ASD) muss eine Gefährdung sehen. Kita und Schule sollen dann helfen, die Kinder zu fördern oder vor Vernachlässigung zu schützen. Viele Kitas und Schulen hätten sich daraufhin selbst gemeldet, weil sie sich um bestimmte Mädchen und Jungen Sorgen machten, so Engelen.
Das Essener Jugendamt hat 1500 Kinder besonders im Blick
Seit Vor-Corona-Zeiten laufen in Essen mehr als 1000 Familienhilfen, die das Jugendamt zusammen mit vielen freien Trägern stemmt. Dazu kämen weitere Angebote, „so dass wir etwa 1500 Kinder im Fokus haben“. Nicht alle seien akut gefährdet, vielfach brauchten überlastete Familien nur Unterstützung. Aber bei gut einem Drittel frage man sich, „ob die Kinder in der Familie bleiben können“. Dabei schaue man vor allem auf Kinder bis zum Alter von sechs Jahren, die besonders verletzlich sind.
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Durch die Notbetreuung erreiche man nun einen großen Teil der gefährdeten Kinder, sagt Engelen. „Das verbessert auch die Situation in den betroffenen Familien deutlich.“ Denn der Lockdown bedeute für Familien, die in prekären Verhältnissen, engen Wohnungen und an der Belastungsgrenze leben, enormen Stress. Da könne es nicht nur leichter zum Knall kommen, da gingen auch mühsam erarbeitete Tagesstrukturen verloren. „Wir sorgen uns, dass wir zeitverzögert sehen werden, wo Kinder zurückgefallen sind.“
„Ohne uns würde das ganze Familiensystem auseinanderbrechen“
Um das zu verhindern, arbeite man im Krisenmodus mit weniger Hausbesuchen, aber viel Präsenz über Anrufe, Videochats, Mails. Mit der ab Mitte März verordneten Kontaktsperre habe man vor der Aufgabe gestanden, „Knall auf Fall Kinderschutz und Gesundheitsschutz unter einen Hut zu bringen“, so Engelen.
Hotline für Kinder in Not ist rund um die Uhr erreichbar
Von den 200 Kindern, die nun aus Kinderschutzgründen in der Notbetreuung sind, besucht eine Hälfte die Kita, die andere Hälfte die Schule.
Die Kollegen in den neun Außenstellen des Allgemeinen Sozialen Dienstes arbeiten zum Teil im Homeoffice, zum Teil vor Ort. Sie stehen in engem Kontakt zueinander.
Beim Kinder- und Jugendnotruf bekommen die jungen Anrufer rund um die Uhr Rat, Hilfe und Schutz: 0201-26 50 50.
Für die Mitarbeiter im chronisch überlasteten Jugendamt sei das eine große Herausforderung gewesen, sagt Martina Peil von der Gewerkschaft Verdi. „Für sie spitzt sich die Lage jetzt zu, und während andere Berufsgruppen als Helden gefeiert werden, wird kaum wahrgenommen, was Sozialarbeiter gerade leisten.“
Verdi hat daher beispielhaft drei Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen befragt, die übereinstimmend von den Anstrengungen berichten, die sie unternehmen, um Kindern und Jugendlichen zur Seite zu stehen, Kontakt zu halten. Schon aus der Sorge um ihre Schützlinge: Nun da das öffentliche Erziehungssystem mit Kitas und Schulen heruntergefahren sei, „würde ohne uns das ganze Familiensystem auseinanderbrechen“.
Sie wünschen sich keinen Applaus – aber Anerkennung für ihre Arbeit
Die Kollegen stünden daher rund um die Uhr in engem Kontakt, um mögliche Kindeswohlgefährdungen rechtzeitig zu erkennen. Auch unangemeldete Hausbesuche gebe es weiterhin. Dabei Abstand zu halten, sich und andere vor einer Ansteckung zu schützen, dürfte nicht immer einfach sein. Die Sozialarbeiter wünschten sich dafür keinen Applaus, sagt Martina Peil: „Aber die Anerkennung, dass auch sie eine systemrelevante Arbeit machen.“