Essen. Ulrich Engelen, Leiter der Sozialen Dienste im Essener Jugendamt, hat Verständnis für die Bedürfnisse junger Eltern. Im Mittelpunkt der Arbeit müsse aber immer das Wohlergehen des Kindes stehen. Das Motto ist: Mit ihnen arbeiten, statt zu belehren.

„Das Jugendamt. Unterstützung, die ankommt“ heißt die bundesweite Kampagne, an der sich das hiesige Jugendamt beteiligt. Mit dem Leiter der Sozialen Dienste, Ulrich Engelen, sprach Christina Wandt über scheiternde Familien, die Supernannys vom Amt und das Image seiner Behörde.

Herr Engelen, zum Jugendamt fällt vielen Bürgern vor allem ein: „Die nehmen Familien die Kinder weg.“

Ulrich Engelen: Das Jugendamt hat Angebote vom Babybesuchsdienst bis zum Ferienspatz; der Kinderschutz ist eine - enorm wichtige - Aufgabe. Es gibt in Essen durchschnittlich 1100 Kinder, die in Heimen oder Pflegefamilien leben. Pro Jahr strengen wir in etwa 100 dieser Fälle Sorgerechtsentzüge an, von denen 80 Prozent durch das Familiengericht bestätigt werden. Das heißt umgekehrt auch, dass wir für 1000 Kinder eine andere Lösung finden, ihnen zum Beispiel die Rückkehr in ihre Familie ermöglichen oder in Aussicht stellen. Wir führen keinen Kampf gegen Eltern, sondern für Kinder.

Die Eltern, die ihre Kinder abgeben müssen, werden das anders empfinden.

Engelen: Das klingt vielleicht merkwürdig, aber die Eltern behalten ja das Recht, ihre Kinder zu sehen. Im Übrigen hat jeder Sorgerechtsentzug seine Vorgeschichte, das ist die ultima ratio. Erstmal gehen wir davon aus, dass alle Eltern ihren Kindern gute Eltern sein wollen.

Auch wenn Sie von Nachbarn oder Lehrern hören, dass ein Kind vernachlässigt oder geschlagen wird?

Engelen: Dann schauen die Kollegen vom Allgemeinen Sozialdienst (ASD) nach, ob es dem Kind gut geht - und sie versuchen, einen Kontakt zu der Familie aufzubauen.

Was nicht leicht ist, wenn man wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung kommt. . .

Engelen: Auf Angst, Ablehnung und Aggression sind die ASD-Kollegen vorbereitet. Aber sie bieten den Familien ja auch etwas an, zum Beispiel ambulante Erziehungshilfen.

Die Supernannys vom Amt?

Engelen: Die Mitarbeiter kommen nicht vom Amt, sondern von freien Trägern. Außerdem ist ihre Arbeit langfristiger angelegt als bei der Nanny aus dem Fernsehen. Aber: Wie die Supernanny kommen sie zu den Leuten und arbeiten eng mit ihnen, statt sie zu belehren.

Und wann gibt es Erfolge?

Engelen: Das ist unterschiedlich, doch spätestens nach zwei Jahren sollte man eine Zäsur machen und schauen, ob sich etwas tut. Wenn Eltern dauerhaft scheitern, müssen wir der nächsten Generation helfen.

Im ungünstigsten Fall muss das Kind dann ins Heim. . .

Engelen: Unsere Maxime lautet: Die richtige Hilfe zur richtigen Zeit - in manchen Fällen ist ein Heim die beste Hilfe, etwa weil ein Kind nicht mehr bereit ist, sich auf eine Pflegefamilie einzulassen. Außerdem denken Sie mal daran, wie Jugendämter angegriffen werden, wenn ein Kind wie Kevin aus Bremen stirbt, weil man ihn eben nicht aus der Familie nahm.

Was tun Sie dafür, dass Kinder trotz Schwierigkeiten bei den Eltern aufwachsen können?

Engelen: Wir tun alles, um den Familien früh zu helfen: Der Allgemeine Sozialdienst sitzt in allen neun Stadtbezirken und ist damit leicht erreichbar. Er berät Kinder und Jugendliche, gibt Eltern Erziehungstipps, bietet Scheidungs- und Trennungsberatung an. Viel erhoffen wir uns auch von den Familienzentren, die das soziale Netzwerk ergänzen können, das mancher Familie fehlt. Kurz: Wir wollen den Schwerpunkt unserer Arbeit von der Intervention auf die Prävention verschieben.

Noch entfällt die Hälfte Ihres 70-Millionen-Etats auf die 1100 Kinder, die nicht mehr zu Hause leben.

Engelen: Richtig. Ein Heimplatz kostet jährlich 55.000 Euro, für ein Pflegekind wird noch ein Viertel der Summe fällig. Aber wir haben seit 2005 bereits 100 Heimplätze abgebaut und dieses Geld in ambulante Hilfen gesteckt: Hier haben wir nun 900 statt 400 Kinder im Blick.

Bisweilen wird Ihr fürsorglicher Blick auch als Einmischung empfunden. Etwa wenn jemand die U-Untersuchungen beim Kinderarzt versäumt und deswegen Besuch von Ihnen bekommt.

Engelen: So schnell kommen wir nicht zu Besuch. Erst wenn jemand auf unsere Anschreiben hartnäckig nicht reagiert, gehen meine Mitarbeiterinnen raus. Meist klärt sich die Sache auf: Viele schmeißen amtliche Post ungelesen weg, andere haben sie nicht verstanden. Aber wenn jemand sehr abwehrend reagiert und das Kind angeblich immer gerade bei der Oma ist, sind das Warnsignale. Die Meldungen zu den U-Untersuchungen gibt es seit anderthalb Jahren, seither haben wir in sechs Fällen das Familiengericht anrufen müssen.

Kinderschutz heißt nun einmal: hinsehen. Doch wir mischen uns nicht mehr so ein wie in den Endzeiten der Fürsorge, die ich noch miterlebt habe.

Der erhobene Zeigefinger hat ausgedient?

Engelen: Ja, wenn wir eine 19-jährige Mutter betreuen, die gern mal in die Disco gehen will, helfen wir ihr vielleicht bei der Suche nach einem Babysitter. Vor 30 Jahren wäre das undenkbar gewesen, da hätte es geheißen: „Die gute Mutter bleibt bei ihrem Kind.“ Ein Anspruch, an dem manche junge Mädchen scheiterten.