Essen. Für den Hitzetod von Luis (2) hat das Landgericht Essen den Vater verurteilt und Kritik am Jugendamt geübt. Die weist der Jugenddezernent zurück.
Der Fall sorgte im vergangenen Sommer für Entsetzen: Eingesperrt in seinem überhitzten Dachzimmer starb der kleine Luis (2) aus Altenessen im Juli 2019 einen qualvollen Tod. Ende März 2020 wurde Luis‘ Vater wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Das Essener Schwurgericht übte dabei heftige Kritik am Jugendamt der Stadt, dem die Familie des Jungen bekannt war. Wir fragen den zuständigen Jugenddezernenten Muchtar Al Ghusain zu dem Fall.
Die Mitarbeiter des Jugendamtes sind bis heute erschüttert
Herr Al Ghusain, Sie haben im vergangenen Jahr erklärt, das Jugendamt habe „keine Erkenntnisse gehabt, dass es zu diesem tragischen Ende hätte kommen können“. Richter Jörg Schmitt beurteilte das nach der Zeugenaussage einer Jugendamtsmitarbeiterin anders: Das Jugendamt habe schon länger Hinweise auf den mangelhaften Zustand des unterernährten Jungen gehabt. Das Amt habe versäumt, darauf angemessen zu reagieren. Warum griff niemand ein, bei einem Kind, das in einem Jahr gerade einmal 400 Gramm zugenommen hatte?
Zunächst möchte ich nochmal meine Betroffenheit über den Tod des kleinen Luis ausdrücken und versichern, dass ich und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes über die Ereignisse des letzten Sommers sehr erschüttert sind. Im Rahmen des Strafverfahrens hat der Vorsitzende Richter auf den mangelhaften Ernährungszustand verwiesen. Bei den verschiedenen Besuchen der Familie konnte augenscheinlich keine kritisch verlaufende Ernährungssituation festgestellt werden und keine offenkundige Unterernährung des Kindes wahrgenommen werden. Dazu haben wir auch keine Hinweise aus dem betreuenden Netzwerk erhalten. Eine geringe Gewichtszunahme alleine lässt keine Beurteilung der Gesamtentwicklung eines Kindes in diesem Alter zu. Todesursächlich war das Einsperren des Kindes bei enormen Sommertemperaturen durch den Vater. Insofern möchte ich an dieser Stelle betonen, dass das Jugendamt nicht Gegenstand der staatsanwaltlichen Ermittlungen war.
Ab dem 1. August 2019 sollte Luis‘ Familie täglich von Sozialpädagogen aufgesucht werden – vier Tage zuvor verdurstete der Junge. Der Jugendamtsleiter erklärte dazu damals, es habe keine Anzeichen gegeben, die eine sofortige Inobhutnahme gerechtfertigt hätten. Richter Schmitt bemängelte jetzt, die Aussage der Jugendamts-Mitarbeiterin dazu sei beschönigend und nicht umfassend genug gewesen. Halten Sie dennoch weiter daran fest, dass es damals eine sehr sorgfältige Gefahreneinschätzung durch das Jugendamt gegeben hat?
Ja, daran halte ich weiter fest. Für das Jugendamt/ASD [Allgemeiner Sozialer Dienst] gehört der Kinderschutz zu den wichtigsten Aufgaben. Es gibt Qualitätsstandards und Verfahren wie der Kinderschutz in jedem Einzelfall sicherzustellen ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes stellen sich täglich der Herausforderung, den Schutz von Kindern in Essen zu gewährleisten. Der Kinderschutz findet immer im Spannungsfeld zwischen der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes und dem nach Grundgesetz geschützten Elternrecht (Artikel 6 GG) statt. Das Jugendamt hat die Aufgabe, passgenaue Hilfen für Familien in schwierigen Situationen zu entwickeln. Eltern müssen bei einer Entscheidungsfindung immer intensiv miteinbezogen werden und kooperieren.
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Die Inobhutnahme von Kindern und Anrufung des Familiengerichts kommen nur dann in Frage, wenn die Eltern nicht mitwirken, um den Schutz eines Kindes sicherzustellen. Das Jugendamt der Stadt Essen hat die Familie bereits über einen längeren Zeitraum unterstützt. Die Tat des Vaters konnte vom Jugendamt der Stadt Essen nicht vorhergesehen werden. Es ein tragischer Umstand, dass die verstärkte Hilfe, die vom Jugendamt installiert worden ist, zu spät kam. Aber auch bei dem mit der Familie abgestimmten verstärkten Hilfsangebot wäre die Familie nicht rund um die Uhr betreut worden.
Gewerkschaft prangerte Arbeitsüberlastung im Sozialdienst an
Die Gewerkschaft Verdi wies damals auf die hohe Arbeitsbelastung im Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes hin, Mitarbeiter hätten immer wieder sogenannte Entlastungsanzeigen geschrieben, um darzulegen, dass sie die Verantwortung nicht mehr tragen könnten. Sie sagten damals, das greife für die Dienststelle Altenessen nicht.
Ich habe zum damaligen Zeitpunkt selber mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bezirksstelle gesprochen. An keiner Stelle konnte ich erkennen, dass die Fallbearbeitung unter der allgemeinen Arbeitsbelastung gelitten hat. Durch Beschlüsse des Rates in den Jahren 2018 und 2019 verstärken wir bereits sukzessive den Allgemeinen Sozialdienst in allen Stadtbezirken mit insgesamt 18 weiteren Stellen.
Experten schauen sich Essener Kinderschutz-Fälle genau an
Im September 2019 kündigten Sie auch an, dass das Deutsche Jugendinstitut sich den Fall Luis und die Arbeitsweise des Essener Jugendamtes ansehen werde. Zu welchen Ergebnissen sind die externen Fachleute gekommen?
Die Arbeitsweisen und Standards des Jugendamtes werden regelmäßig überprüft und weiterentwickelt. Dazu gehört auch, dass die Stadt Essen fortlaufend an Verbesserungen der Absprachen im Bereich der Polizei, der Geburtskliniken, den Kinderärzte, Schulen, Kitas und weiteren Partnern arbeitet.
Der Fall Luis war für das Jugendamt Anlass, mit Hilfe externer Unterstützung auf verschiedene Kinderschutzfälle zu schauen. Gerade im Kinderschutz ist es immer wieder notwendig , sich selber und seine Arbeit zu hinterfragen. In der Jugendhilfe ist es deshalb üblich mit Supervision, kollegialer Beratung und extern moderierten Prozessen zu arbeiten. Seit November 2019 betrachtet das Jugendamt daher gemeinsam mit einem renommierten Institut, das weitreichende Erfahrungen im Bereich der Jugendhilfe hat, problematische Kinderschutzverläufe und schaut sich gezielt Einzelfälle an. Hierüber hat das Jugendamt auch den Jugendhilfeausschuss informiert und wird dort die gewonnenen Erkenntnisse einbringen, sobald die Erkenntnisse vorliegen.