Jörg Uhlenbruch, der Vorsitzende der CDU im Rat, über die Verkehrswende, sein Verhältnis zum OB und die Frage, was Bürger auf Barrikaden treibt.
EssenHerr Uhlenbruch, an jenem 12. September vor 21 Jahren, als in einem politischen Erdrutsch Essens CDU die Sozialdemokraten überflügelte und Wolfgang Reiniger OB wurde, da schritt ein junger Mann nicht nur freudetrunken über die Rüttenscheider Straße und schrie lachend seine ganze Begeisterung in die Nacht: „Ich bin jetzt wichtig!“ Kennen Sie die Story?
Haha, sehr gut sogar, denn das war ich. Ich wollte damals gar nicht zwingend in den Stadtrat, darum habe ich im Vorfeld gesagt: Wisst Ihr was, setzt mich ganz weit hinten auf Platz 40 oder 41 der Rats-Reserveliste. Da komme ich eh nicht rein. Und dann ist es doch passiert, ich war der letzte aus der Liste, der es schaffte. Das haben wir dann gefeiert auf dem Kennedyplatz.
Seit jener Zeit war die CDU in dieser Stadt immer mit am Drücker, und neulich wackelte zu Ihren Gunsten sogar der sonst doch so tiefrote Bundestagswahlkreis im Essener Nord-Osten. Was ist das für ein Gefühl für Sie als Christdemokrat?
Das war immer ein Gutes, aber solche Wahlkreis-Prognosen sind eine Momentaufnahme. Vor drei Monaten sahen die Zahlen für die CDU noch ganz anders aus, genauso übrigens wie für die Grünen. Die Wählerströme schwanken stärker, was ich durchaus gut finde, denn man muss sich mehr anstrengen. Die Leute verfahren nicht mehr nach dem Motto: Die habe ich immer schon gewählt...
Aber dass die Menschen aus einer aktuellen Stimmung heraus wählen, kann doch nicht Wunsch einer Politik sein, die sich mit Entscheidungen gelegentlich auch mal unbeliebt machen muss.
Aber das ist nun mal die Gegebenheit. Der Populismus nimmt zu, die sozialen Medien spielen eine immer größere Rolle – damit muss man leben und versuchen, mit Argumenten zu überzeugen. Wir setzen uns
realistische Ziele und versprechen nicht die einfachen Lösungen wie andere das tun. Ich kann nicht von heute auf morgen sagen: So, der Klimawandel ist vorbei, die Flüchtlingsströme reißen ab.
„Es reicht nicht, den Linken oder der AfD zu sagen: Ihr seid doof“
Bei all diesem Hin und Her, auch in der Parteienlandschaft: Wo SPD wie Grüne, FDP und Linke, Bürger Bündnis und AfD Federn gelassen haben, war die Rats-CDU ein Hort der Stabilität. Kein einziger Seitenwechsler. Sind sie selber überrascht?
Nein, wir haben eine Mannschaft, bei der viele sehr sehr lange der CDU angehören und auch wissen warum. Die machen das nicht von einer politischen Momentaufnahme abhängig.
Sie waren nicht als Zuchtmeister unterwegs?
Nee nee. Wenn man merkt, es gibt Probleme, muss man mit den Leuten reden. Wir hatten während der Flüchtlingskrise sehr viele Diskussionen, haben noch nie so viele Sitzungen abgehalten und hinterher auch gemeinsame Lösungen gefunden. Ich hoffe, dass dies in der nächsten Ratsperiode so bleibt. Aber Abwerbungsversuche hat’s gegeben. Diese Ratsperiode war ja auch sehr lang.
Fast sechseinhalb Jahre. Sind Sie froh, dass es vorbei ist?
Ja, das war definitiv zu viel. Wir haben Gruppierungen im Rat, die so nie gewählt wurden. Wird Zeit, dass die Wähler mal wieder sprechen. Auch wenn ich nicht sicher bin, dass es danach besser wird.
Aber die „Versprengten“ dieser Erde, die einzeln oder zu zweit in den Rat einzogen, haben sich doch eher zurückgehalten. Um es in Ihrem Sinne zu sagen: Es hätte schlimmer kommen können, oder?
Aber die Minderheiten haben schon ein starkes Gewicht. Und künftig werden wir links die „Marx21“-Leute sehen, rechts die AfD, die ich in großen Teilen für eine rechtsextremistische Partei halte. Dennoch muss ich
mich mit beiden inhaltlich auseinandersetzen. Es reicht nicht zu sagen: Ihr seid doof.
„Ich habe als Fraktionschef kein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis“
Wie verstehen Sie bei alledem Ihre Rolle innerhalb der CDU? Sie sind ein ganz anderer Typ als Thomas Kufen, der die CDU-Ratsfraktion vorher führte, weniger präsent. Ist das so abgesprochen?
Nein, das war mit Wolfgang Reiniger als OB und Franz-Josef Britz als CDU-Chef im Rat ja ähnlich: Bei einem CDU-OB stecken sie als Fraktionsvorsitzender natürlicherweise in einer anderen Rolle. Ich habe damit kein Problem und auch kein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis. Wer einen Thomas Kufen als Oberbürgermeister hat, muss wissen, dass der für viele an erster Stelle steht. Da in Konkurrenz zu treten, wäre vergeblich und auch falsch. Wir arbeiten sehr gut zusammen und können uns alles sagen.
Auch: Thomas, Jörg, da liegst Du völlig daneben?
Ja natürlich.
Passiert das oft?
Ehrlicherweise nicht so oft wie ich dachte, als wir anfingen. Das liegt wohl daran, dass wir beide ähnlich ticken. Wir kennen uns seit 30 Jahren, und Dissens haben wir allenfalls in Details. Den gab es übrigens auch in der GroKo mit der SPD nicht.
Sind Sie froh, dass die Genossen Ihnen bei schwierigen Entscheidungen – etwa in der Flüchtlings-Unterbringung – die Hälfte der Last von den Schultern genommen haben?
Wir suchen bei diesen großen Themen natürlich den breiteren Konsens, der auch länger trägt – selbst wenn ich dafür an der einen oder anderen Stelle noch mal etwas nachgeben muss. Aber wenn ich von einer Sache überzeugt bin, dann schultere ich das auch allein, im Zweifel mit einer Stimme Mehrheit.
„Ich fände es auch schlimm, das Auto zu verteufeln“
Dass Sie als Überzeugungstäter unterwegs sind, nimmt Ihnen bei der Verkehrswende, vor allem beim Radentscheid so mancher nicht ab.
Das stimmt, ja…
Weil die CDU wie auch die SPD den Radlern in der Vergangenheit manches Stöckchen in die Speichen gesteckt hat. Was war das für ein Erweckungserlebnis, dass Sie jetzt alle von Saulus zum Paulus werden und auf Drahtesel umsatteln?
Es gab kein Erweckungserlebnis, und wer das nicht glaubt, kann es nachlesen: Wir haben schon vor zwei Jahren beim CDU-Parteitag ein Papier zum Thema Mobilität verabschiedet, da steht viel von dem drin, was
der Radentscheid fordert. Und im September gab es den Ratsbeschluss zum Modal Split...
...also der Frage wie sich der Verkehr auf welche Verkehrsträger verteilt. Geduldige Papiere, die dem Radverkehr eine große Blüte bescheinigen und den Autoverkehr stutzen, haben die Sozis aber schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert verabschiedet. Ohne große Folgen.
Aber diesmal passiert’s. Klar ist: Es reicht sicher nicht, hier und da eine Fahrspur weniger zu machen und eine weiße Linie draufzumalen. Wir brauchen Radstrecken, die attraktiv sind, möglichst kreuzungsfrei; wir müssen massiv investieren und im Zweifel auch Fahrradbrücken bauen. Das wird die Aufgabe der nächsten 15 Jahre sein, und daran wird man uns auch messen können.
Ihre Radbegeisterung überrascht auch, weil man zwischendurch den Eindruck gewinnen konnte, die CDU geht in den Straßenkampf um jeden Parkplatz, der wegzufallen droht.
Ich fände es auch schlimm, das Auto zu verteufeln. Wir müssen einen vernünftigen Mix hinbekommen, das Angebot bei Bus und Bahn verbessern, die Taktfrequenzen erhöhen. Das sind keine Lippenbekenntnisse, sondern bereits gestellte Anträge, die von der Verwaltung nur noch abgearbeitet werden müssen.
„Wir müssen bei der Mobilität auf der gesamten Klaviatur spielen“
Die FDP wirft Ihnen vor, Sie liefen dem „links-grünen Mainstream“ hinterher.
Wer mich kennt, weiß, dass ich das nicht tun würde. Wir reagieren auf geänderte Bedürfnisse der Menschen. Es hat ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden, auch in den Köpfen, den kann ich doch nicht ignorieren.
Müssten Sie sich dann nicht eigentlich auch vom Popanz der A52-Durchstreckung gen Norden verabschieden?
Nein, denn der würde unwahrscheinlich viel Verkehr aus dem Stadtverkehr herausverlagern. Wir plädieren nach wie vor für die A52 in Tunnellage mit einer Anschlussstelle an der Gerlingstraße und einer an der Lierfeldstraße. Die Gladbecker würde wie auch die Alfredstraße massiv profitieren.
Aber bei dem erwähnten Wandel in den Köpfen und der Macht sozialer Netzwerke – glauben Sie, Sie können ein solches Mammutprojekt im 21. Jahrhundert gegen den erbitterten Widerstand vieler Essener durchsetzen? Viele Sozialdemokraten inklusive?
Wir haben unsere Position. Ob wir dafür eine Mehrheit kriegen, weiß ich nicht. Wir müssen bei der Mobilität jedenfalls auf der gesamten Klaviatur spielen.
Auf dem Programm der kommenden Jahre steht dabei nicht nur die Frage der Verkehrswende.
In der Tat, es geht auch um Schulbau und Digitalisierung, um Kitas und die Frage der Sicherheit. Da werden wir mehr machen müssen, mehr Präsenz zeigen mit Ordnungskräften, denn viele Menschen fühlen sich in der Stadt nicht mehr richtig sicher – unabhängig von tatsächlich zurückgehenden Kriminalitätszahlen. Und ein
Riesenthema werden die Arbeitsplätze sein: Wir brauchen mehr Gewerbeflächen, vor allem im Süden der Stadt.
„Es kann und will nicht jeder hinterm Schreibtisch sitzen“
Wohnbauflächen nicht minder.
Aber in der Bevölkerung ist es noch schwieriger, Akzeptanz für Gewerbeflächen herzustellen als für den Wohnungsbau. Dass wir hier nicht viel bieten können, ist für eine Stadt wie Essen nicht gut, denn wir brauchen die Arbeitsplätze, auch industrielle. Es kann und will nicht jeder hinterm Schreibtisch sitzen.
Klingt, als würden Sie sich in der nächsten Ratsperiode unbeliebt machen?
Das machen wir doch jetzt schon.
Na ja, mit gebremstem Schaum.
Ich kann die Anwohner ja oft auch verstehen. Wo viel versiegelt wurde, heißt es: Baut doch da, wo’s grün ist. Und im Grünen sagen sie: Baut doch da, wo’s ohnehin schon grau in grau ist. Egal, was sie machen: Sie treffen auf Proteste. Wenn wir aber gar nichts tun, passiert auf dem Wohnungsmarkt, was wir in Köln, Hamburg oder München erleben: Dann gehen die Mieten in die Höhe, und Sie haben alle auf den Barrikaden. Wir halten es für richtig, mit Augenmaß zu schauen: Wo geht was? Wir wollen keine Ghettos, sondern eine soziale Durchmischung und suchen die Flächen nach
Möglichkeit nicht in Landschaftsschutzgebieten. Ich kann‘s aber auch nicht gänzlich ausschließen.
Ist auch die Innenstadt mehr denn je Baustelle für Sie? Erst recht seit Corona?
Auf jeden Fall. Wir müssen viel mehr Wohnen in die Innenstadt bekommen. Wenn Sie den Blick über den Ladenlokalen schweifen lassen, merken Sie, wie groß die Leerstände sind.
„Wir wollen, dass Thomas Kufen wieder OB wird – das ist kein Selbstläufer“
Corona hinterlässt nicht nur im Einzelhandel Spuren, sondern auch bei den Stadtfinanzen. Werden wir im Sparkurs um Jahre zurückgeworfen?
Das hängt davon ab, wie lange diese Pandemie noch dauert. Solange die Wirtschaft so darniederliegt, wie sie das derzeit tut, haben wir natürlich ein Problem. Für Essen kann ich sagen: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Und das war nicht vergnügungssteuerpflichtig.
Auf den nächsten Rat kommen große Aufgaben zu. Wenn Sie sich einen Polit-Partner aussuchen könnten: Wäre das wieder die SPD?
Ich bin da nicht festgelegt. Wir haben mit den Sozialdemokraten in sechseinhalb Jahren sehr gut zusammengearbeitet, aber vorher auch mit den Grünen oder auch der FDP. Am Ende ist es ja auch so, dass in der Kommunalpolitik Sachthemen im Vordergrund stehen – und die Frage, ob man persönlich gut miteinander kann. Wir wollen, dass Thomas Kufen wieder Oberbürgermeister wird, das ist kein Selbstläufer: Wir sind nicht so arrogant zu glauben, dafür müssten wir keinen Wahlkampf machen. Wir können uns auch nicht ausruhen auf dem, was wir getan haben, sondern wir werden mobilisieren, damit die CDU stärkste Fraktion wird.
Und wenn’s klappt, treffen wir Sie am 13. September abends weinselig auf der Rü?
(lacht) Weinselig sicher nicht. Wenn, dann trinke ich Bier.
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