Essen. Heute hier, morgen dort: Noch nie wechselten so viele Ratsmitglieder das politische Lager. Bei der Konkurrenz sind die Abtrünnigen willkommen.
Kaum hatte Karlheinz Endruschat seinen alten Genossen lebt wohl gesagt, standen dieser Tage schon die neuen Kumpels auf der Matte. Dem SPD-Vize ging es da nicht anders als vielen anderen, die im Stadtrat zum Spurwechsel antreten: Sie werden von der politischen Konkurrenz umworben wie aussortierte Mittelstürmer auf dem Transfermarkt der Bundesliga. Und die laufende Ratsperiode, sie beschert einen neuen Rekord.
Schon 29 Mal hieß es seit 2014 im Essener Stadtparlament: Bäumchen-wechsle-dich. Da wurden Sozis zu Liberalen und Grüne zu Tierschützern, Linke zu noch schöneren Linken und Piraten zu Freien Wählern – während die AfDler sich in Luft auflösten und Freie Wähler zur FDP wanderten oder zu den Sozialdemokraten oder das ganze auch retour. Derweil ändern Gruppen ihren Namen, andere lösen sich auf oder schaffen es als Neugründungen nicht mal bis zum ersten Geburtstag. Und da soll man noch den Überblick behalten?
Selbst den Eingeweihten kommt schon der Überblick abhanden
Wolfgang Freye von der Linkspartei war dieser jedenfalls abhanden gekommen und nicht nur ihm. Weshalb dieser beim OB offiziell und übrigens sehr zur Belustigung der versammelten Politikerschar im Rat fragte, wie viele Übertritte es denn bis dato gegeben habe und vor allem: „Wer sind die fünf Wechsel-Könige im Rat?“
Eine Frage, die auch den Oberbürgermeister sichtlich amüsierte, schließlich sei die Antwort „auch interessant für unser Stadtarchiv“. Dieses allerdings wird die Auswertung der Krönungs-Kandidaten dann doch per Strichliste selber übernehmen müssen, weil die Stadtspitze sich darauf beschränkte, die Wechselvorgänge aufzulisten.
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Wechsel-„Könige“ wollen von ihrer zweifelhaften Ehre nichts wissen
Ganz vorn: Arndt Gabriel, erst SPD, dann dort wegen des Streits um sein Asyl-Heim rausgeworfen, dann wieder aufgenommen, dann ausgetreten, dann zur „Wählergemeinschaft Essen“, dann wieder raus, dann zum Essener Bürger-Bündnis. „Ich bin kein Wechselkönig“, sagt der 58-Jährige dennoch. Schließlich hätten ihm die einstigen Genossen zwei Einträge sozusagen aufgezwungen.
Auch Jochen Backes sieht sich nicht als Titelaspirant: „Ich habe meine Prinzipien, meine Linie gehabt“, betont der 42-Jährige, der nach 16 Jahren CDU-Mitgliedschaft „von meiner Partei verlassen wurde“, wie er das gerne formuliert, danach zur AfD wechselte, dort wegen des enormen Rechtsrucks das Weite suchte, zum Essener Bürger-Bündnis fand, dort im Streit die Bürgerliche Mitte ausgründete und diese später wieder abwickeln musste.
OB: „Es gibt im Stadtrat halt einige politische Ich-AGs“
Platz 3? Janina Herff, einst Linke, heute SPD. Auf 4 Marco Trauten: von der AfD zum Tierschutz. „Die Gemeindeordnung erlaubt solche Wechsel. Damit ist alles gesagt“, meint der dazu befragte Oberbürgermeister achselzuckend. Und schiebt hinterher, dass es „schon etwas schwer zu verstehen ist, wenn Mandatsträger in einer Ratsperiode die halbe politische Bandbreite abdecken“. Thomas Kufens Erklärung hierfür? „Es gibt im Stadtrat halt einige politische Ich-AGs.“
Und die Zersplitterung in viele kleine Ratsgruppierungen (ver)führt dazu, das eigene Mandat an anderer Stelle einzusetzen, denn zu zweit erreichte man im Essener Rat bislang den Status einer Gruppe, zu dritt gar den einer Fraktion – mit spürbar besserer finanzieller Ausstattung.
Essens Rats-CDU? Dort will keiner weg – aber auch keiner hin
Gelockt wird deshalb mit sicheren Listenplätzen oder Direktkandidaturen. Nur die wenigsten lassen es dann dennoch mit der Stadtpolitik bleiben, wie etwa Anabel Jujol, die nach mehreren Wechseln im Mai 2017 ihr Ratsmandat zurückgab, weil sie „an diesem Spagat gescheitert“ sei – zwischen ihrer Betroffenheit beim Blick auf Einzelschicksale und der Idee, dies in politische Debatten und Konzepten umzumünzen: „Das hat mir keine Freude gemacht.“
Andere finden ihr politisches Glück offenbar erst in neuen Strukturen. Karlheinz Endruschat jedenfalls will für die verbleibenden neun Monate das politische Spielfeld noch nicht verlassen. Und von draußen staunen die Christdemokraten über die Verluste der anderen. „Da will keiner weg“, stellte OB Kufen über seine Partei im Rat augenzwinkernd fest, „...aber da will auch keiner hin“.