Essen. Bei der Aufstellung der Kandidaten für die Kommunalwahl zeigte sich: Die Essener Linke ist weiter nach links gerückt. Das Wort führen Radikale.
Wolfgang Freye hat Rücken. Doch der Schmerz sitzt tiefer: Der langjährige Ratsherr der Linken ist das prominenteste Opfer der jüngsten Kandidatenkür seiner Partei. Bei der Aufstellung der Reserveliste für die Kommunalwahl am vergangenen Wochenende ist Freye durchgefallen. Zur eigenen Überraschung, wie er offen einräumt. Bis fünf Minuten vor der Abstimmung habe er nicht einmal geahnt, dass es einen Gegenkandidaten geben würde.
Ratsfrau Ezgi Gülyidar, immerhin Mitglied des Landesvorstands, erging es ähnlich. Auch sie wollte erneut für den Rat der Stadt kandidieren – und scheiterte. Wie Freye sei sie kalt erwischt worden. Ezgi Gülyidar nennt es enttäuschend, dass ausgerechnet die beiden verbliebenen Ratsmitglieder ausgebootet worden seien. Der Schmerz sitzt tief, auch bei ihr.
Michael Steinmann hat es kommen sehen. Für den ehemaligen Sprecher des Kreisverbandes ist die Aufstellung der Kandidatenliste vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung innerhalb der Essener Linken, die seinen Worten nach vor einigen Jahren ihren Anfang nahm, und die in eine stille Übernahme mündete. In eine Übernahme durch eine „mehr oder weniger trotzkistische Strömung“ rund um Steinmanns Nachfolger Daniel Kerekes.
Die Rede ist von „Marx 21“, einer radikalen Gruppierung innerhalb der Linken, für die Weltrevolution und eine klassenlose Gesellschaft nicht nur Worthülsen sind, sondern politisches Ziel, hervorgekramt tief unten aus einer mit ideologischen Kampfbegriffen gut gefüllten Mottenkiste. Die Utopie lebt, ungeachtet aller leidvollen Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus.
„Marx 21“-Leute auf den ersten beiden Listenplätzen in Essen
In der Partei hat die Gruppierung an Einfluss gewonnen, nicht nur in Essen. Daniel Kerekes, 33, hauptberuflich Mitarbeiter des Oberhausener Bundestagsabgeordneten Niema Movassat und ehemaliger Sprecher der Linksjugend, bezeichnet sich auf Nachfrage als Unterstützer von Marx 21. Seine Partei wird er auf Platz 1 der Reserveliste in den Wahlkampf führen. Auf Listenplatz 2 folgt Theresa Brücker. Laut Kerekes zählt auch sie zu „Marx 21“.
Im Essener Kreisverband „fing alles zunächst ganz harmlos an“, berichtet Michael Steinmann. Kerekes habe sich sehr, sehr nützlich gemacht und viel Zeit in die Parteiarbeit gesteckt. Aber: „Im Grunde hat er die Partei komplett umstrukturiert.“
Vorwiegend jüngere Leute unter den Mitgliedern treffen sich immer donnerstags beim „Aktiventreff“. Kerekes habe sich so eine Machtbasis aufgebaut, die er zu nutzen wisse, sagt Steinmann und spielt auf den Termin des Wahlparteitages an. Der hätte eigentlich Ende März stattfinden sollen, wurde dann aber um drei Wochen vorgezogen. Mit der Folge, dass etwa 40 Mitglieder, die erst kürzlich in die Partei eingetreten waren, nicht stimmberechtigt waren. Laut Satzung müssen nach dem Parteieintritt sechs Wochen vergehen; erst dann dürfen Neumitglieder ihr Wahlrecht ausüben. Diese Frist wurde durch die Verlegung unterschritten.
Der Wahlparteitag wurde um drei Wochen vorgezogen – laut Vorstand aus Raummangel
Daniel Kerekes sagt dazu, Ende März sei als Termin für den des Wahlparteitag lediglich anvisiert worden. „Der Termin war nie offiziell. Es wurde auch nie dazu eingeladen.“ Weil keine geeigneten Räume zur Verfügung standen, sei der Parteitag vorverlegt worden. Die Alternative wäre nach den Osterferien gewesen, so Kerkes. Der Vorstand fand, das wäre zu spät, schließlich will die Partei am 1. Mai ihren Wahlkampfauftakt feiern. Steinmann hält das für vorgeschoben.
Gegen die Aufnahme von etwa 20 Neumitgliedern hat der Vorstand Widerspruch eingelegt, was Kerekes bestätigt. Der Kreisvorsitzende begründet dies mit statistischen Auffälligkeiten. „Wenn innerhalb von nur zwei Wochen so viele Leute eintreten wie sonst in einem ganzen Jahr, schrillen die Alarmglocken.“ Ralf Fischer, Schatzmeister des Kreisverbandes wird deutlicher, ohne Namen zu nennen. In einer Rundmail an die Mitglieder spricht er von einer Eintrittskampagne – mit dem Ziel, eine andere Mehrheit zu organisieren.
Gemünzt ist der Verdacht offensichtlich auf Ratsfrau Ezgi Güyildar. Michael Steinmann weist darauf hin, dass der Vorstand ausschließlich der Aufnahme von Neumitgliedern widersprochen habe, deren Nachname auf einen türkische oder anderen Migranten-Hintergrund spreche. Steinmann nennt das bedenklich, spricht von einem Generalverdacht. Anderseits: Es wäre nicht der erste Versuch, Mehrheiten durch Neueintritte zu organisieren. Schon 2014, als sich im Kreisverband zwei verfeindete Lager gegenüberstanden, bedienten sich beide Seiten dieser Methode.
Ratsherr Wolfgang Freye hat sich einiges an Ansehen erarbeitet
Ezgi Güyildar will sich auf Nachfrage nicht näher zu den internen Querelen äußern. Sie sagt nur soviel: Der Partei hätte bei der Aufstellung mehr Pluralismus gut zu Gesicht gestanden. Kerekes weist diesen versteckten Vorwurf zurück. Auch von einer stillen Übernahme des Kreisverbandes durch Marx 21 könne keine Rede sein.
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Auf die Erfahrung von Wolfgang Freye wird die Linke im Rat der Stadt nach der Kommunalwahl verzichten. Seit 21 Jahren ist der Gewerkschafter in der Kommunalpolitik aktiv, auch er steht in der Regel links von klassischen sozialdemokratischen Positionen, ist in Sachfragen aber oft mehr Pragmatiker und weniger Ideologe. Sein rhetorisches Geschick und sein wenig aggressiver Stil hat ihm einiges Ansehen auch bei Ratskollegen eingebracht, die ihm politisch fernstehen.
Die Kandidaten-Liste
Bei der Kommunalwahl strebt die Linke laut Kreissprecher Daniel Kerekes fünf Sitze im Rat der Stadt an, sechs Sitze hält Kerekes durchaus für realistisch.
Auf den aussichtsreichsten Listenplätzen stehen: 1. Daniel Kerkes, 2. Theresa Brücker, 3. Heike Kretschmer, 4. Stefan Hochstadt, 5. Devran Dursun, 6. Shoan Vaisi, 7. Julia Quast, 8. Hans-Jürgen Zierus, 9. Marisa Baensch, 10. Efstathios Tassikas.
Durch diese Grundhaltung und allerdings auch durch seine mitunter im überlegenen Gestus vorgetragene Sachkunde hat sich Freye bei den jungen Radikalen offenbar auch Gegner gemacht. Auch Freyes Ehefrau, Linken-Fraktionschefin Gabriele Giesecke, die ähnlich agierte, verzichtete auf eine neue Ratskandidatur – sie allerdings, so heißt es, freiwillig.
Mit den Neuen Linksaußen im Rat dürfte ein neuer Stil einziehen. Mehr Klassenkampf, für den die Parlamente frei nach Lenin nur die Bühne bieten?
Und Wolfgang Freye? Hat bald mehr Zeit, um seine Rückenschmerzen auszukurieren.