Essen. Der Bürgerentscheid für eine Offensive im Radverkehr wird wohl nicht nötig sein: Die Politik will bereits in der August-Sitzung den Plänen folgen.
Mit dem Drahtesel kommt man mitunter schneller voran als gedacht. Diese Erfahrung machen derzeit die Initiatoren des Essener Radentscheids, der die örtliche Politik – hier passt die Redewendung mal – mit massivem Druck von der Straße zu einer deutlich fahrradfreundlicheren Politik zwingen wollte. Nicht nötig, die große Mehrheit lenkt jetzt schon ein. So nimmt das Bürgerbegehren aller Voraussicht nach eine ungeahnte Abkürzung – und ist womöglich schon im August am Ziel.
Die Fahrradfreunde zwischen Karnap und Kettwig, sonst gewohnt, dass man ihnen alle möglichen Stöckchen in die Speichen steckt, wissen dabei gar nicht, wie ihnen geschieht. Schon vor Wochen hatte die große Rats-Koalition aus SPD und CDU in vertraulicher Runde signalisiert, dass man die weitreichenden Forderungen des Ratsentscheids umsetzen wolle.
Die Initiatoren wollten etwas in der Hand haben, worauf sie sich immer berufen können
„Und zwar 1:1, mit genau dem Wortlaut, den auch das Bürgerbegehren nutzt“, verrät einer der Teilnehmer aus der Politik. Schon im Juni wäre damit ein Beschluss über jene sieben verkehrspolitischen Ziele möglich
gewesen, die Essen in den nächsten neun Jahren laut Radentscheid umsetzen soll: von jährlich zehn aufgebrezelten Radnetz-Kilometern über drei Kreuzungs-Umbauten pro Jahr bis zu tausenden neuen Fahrrad-Stellplätzen. Die Radler seien damals perplex gewesen und hätten abgelehnt, heißt es: Die neuen T-Shirts seien ja noch nicht fertig.
Jonathan Knaup, einer der drei Vertretungsberechtigten des Radentscheids, beteuert, dass es fürwahr nicht nur an womöglich ins Leere laufenden Werbegags lag, dass man damals eher reserviert reagierte: „Uns fehlte schlicht der Glaube an den tatsächlichen Willen, das am Ende auch umzusetzen“, sagt der Landschaftsarchitekt, der sich genauso überrumpelt fühlte wie seine Mitstreiter. Man beschloss weiterzusammeln, nicht zuletzt, um für den Fall, dass da am Ende doch noch was schief geht, „etwas zu haben, worauf wir uns immer berufen können“: auf tausende Unterschriften von Essenern nämlich, die ihren Namen und ihre Unterschrift für eine Offensive im Radverkehr hergeben.
Die sonst so erfolgreichen Orte für Sammlungen blieben diesmal verschlossen
Seit dem vergangenen Wochenende glaubt man sich am Ziel, angesichts von 17.000 Unterstützern, die im Corona-Umfeld und damit in einer gesellschaftlichen Ausnahme-Situation binnen sechs Wochen zusammenkamen. Denn befragt, wo bei früheren Bürgerbegehren besonders erfolgreich gesammelt wurde, nannten die Akteure von gestern stets jene Orte, die diesmal mehr oder weniger verschlossen blieben: Großveranstaltungen und Stadtfeste, Freibäder, die Uni und Kneipenrunden. „Umso mehr sind wir stolz auf das Ergebnis“, sagt Knaup.
Dass sich unter den 17.000 Unterstützern noch so manche Dublette, mancher Scherz-Unterzeichner fände, würde denn wirklich amtlicherseits geprüft – geschenkt. Formell wäre das Begehren erst erfolgreich, wenn drei Prozent der bei einer Kommunalwahl stimmberechtigten Essener es unterstützen. Das wären rund 13.700 Personen ab 16 Jahren.
Ein neuer Termin mit der Politik – und die Entscheidung in der letzten Sitzung?
Der Puffer hierfür scheint jedenfalls groß genug, doch die aufwendige und damit nicht ganz billige Prüfung durch das Wahlamt lässt sich augenscheinlich ersparen: Anfang August wollen sich Rad- und Rat-Experten mit dem Gewicht der vielen Unterschriften im Rücken erneut zusammensetzen. Denkbar ist dann, dass der Stadtrat in der 50. und letzten Sitzung dieser laufenden Ratsperiode am 26. August den Weg für die Radler und ihre Forderungen freimacht.
Ob die Initiatoren angesichts des schnellen Einlenkens von politischer Seite schon mal daran gedacht haben, dass sie bei ihrem Katalog womöglich doch zu bescheiden waren? Jonathan Knaup winkt ab. Was da jetzt auf dem Tisch liege, sei „nach oben nicht frei skalierbar“. Sondern realistisch, das hätten die Gespräche mit Bau-Experten ergeben. Und bei alledem doch immer noch ambitioniert genug.