Essen. . In Essen fehlen 2900 Kita-Plätze. Für einen Betreuungsplatz nehmen Familien vieles in Kauf, manche sogar eine Bestechung der Kita-Leiterin.

Schon eine Woche nach dem Start der Kitaplatz-Vergabe in Essen zeichnet sich ab, welche verheerenden Auswirkungen die rund 2900 fehlenden Plätze für die Familien haben werden.

Offiziell haben die Einrichtungen zwar noch bis Ende des Monats Zeit, Plätze zu- oder abzusagen. In vielen Einrichtungen jedoch wurden die Eltern bereits informiert – und nicht selten damit konfrontiert, dass sie sich für die Betreuung ihrer Kinder einen Plan B überlegen müssen.

Mehr als 100 Mal am Tag suchen Eltern im Moment den Kontakt zum Familienpunkt, wie die Stadt bestätigt – meist, weil sie in der Kita-Frage nicht weiter wissen.

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„Es ist für viele Familien total frustrierend, was hier gerade passiert“, kommentiert Carolin Claas als Vorsitzende des Jugendamtselternbeirats die Lage. Der Blick in andere Ruhrgebietsstädte wie Duisburg oder Bochum zeige, dass nicht nur hohe Flüchtlingszahlen und eine steigende Geburtenrate für die Misere verantwortlich gemacht werden könnten: „Dort können mehr als 95 Prozent der Kinder betreut werden. In Essen sind es das erste Mal weniger als 90 Prozent. Hier ist schlicht vieles verschlafen worden in den vergangenen Jahren.“

400 Bewerbungen für 20 Kita-Plätze

Ausbaden müssen das im Moment vor allem die Erzieherinnen, denen mittlerweile die Ohren klingeln. Die Leiterin einer konfessionellen Kita, die anonym bleiben will, erlebt turbulente Tage: „Ob per Telefon, Mail oder bei uns vor der Tür: „Wir kommen hier fast nicht mehr zum Arbeiten, weil wir so viele Elternanfragen bekommen.“ Sie kann 19 Plätze vergeben, 355 Kinder stehen auf der Liste. „Einen Kita-Platz in der gewünschten Stunden-Form zu bekommen, ist wie ein Sechser im Lotto“, sagt sie.

Bei jenen Eltern, denen sie absagt, erlebt die Erzieherin teils Absurdes: „In seiner Verzweiflung hat ein Paar schon versucht, mir einen Scheck zuzuschieben“, berichtet die Leiterin. Auch Beschimpfungen hätten sie und ihr Team sich schon anhören müssen. Kolleginnen aus anderen Kindertagesstätten berichten Ähnliches.

„Hier schellt fast minütlich das Telefon, ich komme nicht einmal dazu, die ganzen Absagen bei Little Bird einzupflegen“, berichtet etwa Dorothee Engemann, Leiterin der Awo-Kita in Rüttenscheid. 400 Anmeldungen muss sie bearbeiten, lediglich 20 neue Kinder wird sie aufnehmen können.

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Dass es in diesem Jahr besonders dramatisch wird, habe sich schon bei der offenen Tür gezeigt. Eine Veranstaltung, zu der die Kita an zwei bis drei Samstagen im Jahr öffnet. „Da kommen zum Teil 70 Familien vorbei, um sich die Einrichtung anzusehen“, berichtet Engemann, die mit allen Müttern und Vätern mitfühlt: „Die Not ist groß und wir machen uns das nicht einfach.“ Aber sie könne eben nur die Plätze anbieten, die im Betreuungsschlüssel vorgegeben sind. „Die Awo eröffnet ja zurzeit jede Menge neue Einrichtungen, am Berliner Platz oder demnächst an den Cranachhöfen zum Beispiel. All das reicht aber noch nicht“, befürchtet Engemann.

Altenpflegerin mit zwei Kindern weiß nicht weiter

Zur Wahrheit gehört dabei auch, dass manche Eltern nun Mitglieder der Arbeiterwohlfahrt sind – um ihre Chancen auf einen Platz zu verbessern. Solche Geschichten berichten leidgeprüfte Mütter und Väter auf Facebook zuhauf. Eine Mutter erwägt sogar den Wegzug aus Essen.

Was alle eint, ist das Gefühl der Ungerechtigkeit: „Wir sind beide vollzeitig berufstätig und bekommen nur Absagen. Der 25-Stunden-Kita-Platz, den man uns für unser dreijähriges Kind angeboten hat, hilft uns da nicht viel“, sagt Naoual Aarab (27), die als medizinische Fachangestellte an der Uniklinik arbeitet: „Auch bei unserer eigenen Betriebskita ist die Warteliste lang.“ Wie es im Sommer weitergehen soll, weiß sie nicht.

Für Altenpflegerin Carina Jungermann (30) aus Bochold sind die Absagen für ihre beiden Kinder eine „Katastrophe“, berichtet sie: „Unser jüngstes Kind wird im September ein Jahr alt, die Große bald drei. Ich will und muss im Herbst wieder arbeiten gehen - und weiß im Moment wirklich nicht weiter.“ Ihre Tochter stehe „gefühlt seit der Geburt“ auf Kita-Wartelisten, wird aktuell bei einer Tagesmutter betreut. „Aber da kann sie doch nicht bis zur Einschulung bleiben“, wendet die junge Mutter ein.

Ebenso allein gelassen fühlt sich Juliane (34), die bislang nur Absagen bekam. Die Alleinerziehende lebt in Steele und arbeitet in der Stadtmitte im Personalmarketing. Ihren Sohn (2) bringt sie jeden Morgen zur Tagesmutter nach Kray-Süd, bewältigt alle Strecken mit Bus und Bahn. „Ich brauche eine längere Betreuung, da ich bis 15 Uhr arbeite. Meine Eltern leben in Berlin und Niedersachsen, nähere Verwandte habe ich hier auch nicht. Es gibt einfach zu wenig Unterstützung“, bedauert sie.

Stadt plant Kita-Veranstaltung im Mai

Die Stadt indes beteuert, „konsequent am Ausbau von Kita-Plätzen“ zu arbeiten und im Kita-Jahr 2019/2020 insgesamt 1.050 neue Betreuungsplätze zu schaffen.

„Das reicht allerdings noch nicht, um die Bedarfe zu decken“, sagt Stadtsprecherin Silke Lenz auf Anfrage. Deswegen sei im Mai eine Veranstaltung geplant, an der neben der Stadt und den Kita-Trägern auch Investoren, Wohnungsbaugesellschaften und Verbände teilnehmen.

„Die Gründe für den Rückfall der Versorgungsquote liegen in den gestiegenen Einwohnerzahlen durch geburtenstarke Jahrgänge und Zuzug“, begründet die Stadt den dramatischen Platzmangel.