Essen. Über 37 Meter Plane hinweg erstreckte sich der Schriftzug: “Westtribüne Rot-Weiss Essen“ hatte ein Graffiti-Künstler im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Westtribüne aufgesprüht, dazu Essener Wahrzeichen. Am Sonntag hatten die RWE-Fans das Graffiti angebracht. Seit Freitagmorgen ist es verschwunden.
Erst Mitte dieser Woche präsentierte die Arbeitsgruppe „Westtribüne Essen“ den RWE-Fans auf ihrer Website das prächtige Graffiti, das etliche Gruppen der rot-weissen Fanszene monatelang vorbereitet hatten. In ihrem Auftrag hatte ein Sprayer das großformatige Kunstwerk am Sonntag auf eine 37 Meter breite Plane des Awo-Fanprojektes aufgesprüht. Am Zaun an der Hafenstraße aber blieb es nicht mal fünf Tage hängen: Unbekannte haben die Lkw-Plane mit dem Graffiti in der Nacht auf Freitag abgeschnitten und gestohlen.
Den Kurvenverband Westtribüne Essen gründeten 2012, nach dem Abriss des Georg-Melches-Stadions und der Einweihung des neuen Stadions, mehrere Gruppen der Essener Ultra-Szene. Nachdem das Stehplatz-Publikum auf der neuen "Westkurve" vereint wurde, hatten sich immer mehr Gruppen und einzelne Anhänger der Arbeitsgemeinschaft angeschlossen. Deren Ziel ist es, "den Mythos Hafenstraße wiederaufleben zu lassen und das Stadion an der Hafenstrasse zu einer neuen Festung werden zu lassen. Die würdevolle Präsentation des Vereins Rot-Weiss Essen e. V. steht dabei an oberster Stelle", schreibt die Gruppe auf westtribuene-essen.de.
Essener Skyline und GMS: "Von der Ruhr ... bis an die Elbe"
Mit der Plane, die das Awo-Fanprojekt vor anderthalb Jahren als Sichtschutz für den Treffpunkt "Melches Hütte" gekauft hatte, beschäftigte sich die Westtribüne schon das ganze Jahr über. "Es war uns wichtig, diesen Anlaufpunkt der noch grauen Stadionwelt gestalten zu können", sagt ein Beteiligter. Die Arbeitsgemeinschaft sammelte Gestaltungsvorschläge, im Sommer dann wählte sie den besten Entwurf aus: das Graffiti eines Sprayers aus dem Freundeskreis des Westtribünen-Projektes.
Dessen zentrales Element ist der geschwungene Schriftzug "Westtribüne Rot-Weiss Essen" über dem RWE-Logo. Eingerahmt wird dieser von Essener Ikonen: Links des Schriftzuges hat der Künstler die Skyline mit Doppelbock und Industriekulisse sowie – natürlich – das alte Georg-Melches-Stadion aufgesprüht, rechts zusätzlich zur Silhouette auch noch einen Ultra-Fan. Der schwenkt zur Botschaft "Von der Ruhr ... bis an die Elbe" eine Fahne.
Claudia Wilhelm vom Fanprojekt ist "traurig und bestürzt"
400 Euro Spendengelder hatten Westtribüne und Fanprojekt eingesammelt, damit der Streetart-Künstler die 37 Meter lange und etwa anderthalb Meter hohe Plane mit Spezialfarbe gestalten konnte. Vor seinem zweitägigen Einsatz am Wochenende hatten die Plane gereinigt und im Sommer sogar noch den Wildwuchs davor entfernt.
All das Engagement für das identitätsstfiftende Projekt der RWE-Fans haben Unbekannte in der Nacht auf Freitag zunichte gemacht: Sie haben die Plane der Länge nach abgeschnitten, nur zehn Meter übrig gelassen. Mit einem sauberen Schnitt haben sie am rechten Rand zehn Meter Plane am Zaun gelassen. So ist nur noch die Adresse der Melches-Hütte zu lesen: Hafenstraße 99a. "Als ich gestern Feierabend gemacht habe, hing das Graffiti noch da", sagt Claudia Wilhelm vom Awo-Fanprojekt. "Ich bin traurig und bestürzt."
Früher sei es für rivalisierende Fans ein Tabu gewesen, sich an Fanprojekten anderer Szenen abzuarbeiten: "Die ließ man in Ruhe", weiß Wilhelm, die das Essener Fanprojekt seit 19 Jahren mit Roland Sauskat betreut. Auch die Hoffnung auf die Gültigkeit dieses alten Ehrenkodex habe letztlich zur Entscheidung geführt, so Wilhelm, "die Plane trotz des Risikos so zu gestalten". Die Sozialarbeiterin hat direkt am Freitagmorgen Strafanzeige gestellt. "Ich hoffe einfach nur, dass daraus nicht wieder neuer Ärger entsteht." Auf der Wache in Altenessen waren bis Freitagmittag noch keine Hinweise zur Tat eingegangen. Die Polizei bittet um Hinweise auf verdächtige Beobachtungen unter 0201/829-0.
Offene Rechnungen unter Hooligans
Man muss kein Kenner der Fanszenen an Rhein und Ruhr sein, um auf den Gedanken zu kommen, dass hinter dem Diebstahl von der Hafenstraße rivalisierende Anhänger eines anderen Vereins stecken.
Zumal der Fahnen- und Bannerklau ein in vielen Szenen beliebtes Ritual ist. Offene Rechnungen verschiedenster Art jedenfalls gäbe es genug – auch wenn diese Scharmützel nicht in erster Linie Ultra-Gruppen, sondern Gewalt suchende Hooligans beschäftigen. Vor dem Halbfinale im Niederrheinpokal hatten Essener Hooligans ein Banner der ältesten Duisburger Schlägertruppe „Duisburg Forever“ geklaut und später dann im Stadion präsentiert. Und erst vorigen Freitag hatten 150 Personen, von denen viele laut Polizei der Essener Hooliganszene und deren Umfeld zuzurechnen sind, die Gaststätte „Bahnsteig 3“ in Oberhausen-Sterkrade angegriffen. Die Kneipe ist ein bei RWO-Anhängern beliebter Treffpunkt.