Duisburg. Kunst sehen ist die eine Sache, sie zu spüren eine andere. Bei einer speziellen Führung, die sich eigentlich an Blinde richtet, tastete sich am Sonntag eine Gruppe Kunstliebhaber durch die Skulpturenwelt im Duisburger Lehmbruck-Museum – eine erstaunliche Erfahrung.
Normalerweise gilt für die Skulpturen im Lehmbruck-Museum: Berühren nicht gestattet. Am Sonntag fehlte das vertraute Verbot für eine knappe Stunde. Eine ganz besondere Führung wanderte nämlich durch die Ausstellung – eine zum Ertasten.
Das Angebot richtet sich gleichermaßen an Blinde und Sehbehinderte sowie an Sehende. An der sonntäglichen Führung nahmen dann tatsächlich nur Menschen mit Augenlicht teil. Doch auch für sie war es eine außergewöhnliche Erfahrung, das Visuelle völlig hinter sich zu lassen und sich auf das reine Tasten, das Fühlen zu beschränken.
„Es ist schwierig, aber Sie merken, dass Sie irgendwann von dem Wunsch befreit werden, etwas zu entdecken“, kündigte Kunstvermittlerin Sybille Kastner an, die die Führung leitete. „Immer mehr geht es um das Tasten selbst.“
Ganz eigene Gruppendynamik
Um sich völlig vom Sehen zu lösen, bekamen die Teilnehmer Schlafmasken aufgesetzt und ließen sich von ihren Partnern zu den jeweiligen Exponaten führen. Bereits hier zeigte sich eine ganz eigene Gruppendynamik, die sich auf normalen Führungen nicht ergibt. Die Teilnehmer stützten einander, halfen sich gegenseitig und nahmen ganz besonders Rücksicht. „Ich fühle mich unsicher“, sagte Teilnehmerin Ulrike König. „Nichts von seiner Umgebung zu sehen, ist eine unangenehme Erfahrung.“
Beim Ertasten der Skulpturen hatte die Kunstliebhaberin König dann weniger Probleme. Intensiv strich sie mit ihren Fingern über Käthe Kollwitz’ „Mutter mit zwei Kindern“ und befühlte auch die kleinsten Winkel der Bronzeskulptur gründlich. „Ich hätte gerne eine halbe Stunde Zeit, um alle Feinheiten zu entdecken“, sagte König.
Führungen und mehr
Das Lehmbruck-Museum bietet Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen verschiedene Wege, sich der Kunst zu nähern. So gibt es neben den Tastführungen für Blinde und Sehbehinderte auch Führungen für Menschen mit Gehörbeeinträchtigungen oder für Demenzkranke. Über einen Verteiler können sich Kunstliebhaber darüber auf dem Laufenden halten, welche Aktionen das Museum wann abhält.
Diese Reaktion sei normal, bestätigte Kunstvermittlerin Kastner: „Wenn wir sehen, erfassen wir Dinge gleich als Ganzes. Müssen wir aber mit unseren Händen tasten, setzen wir die Dinge nur stückweise zusammen.“ Dabei komme es auch auf die individuellen Fähigkeiten eines Menschen an, vor allem auf das räumliche Vorstellungsvermögen.
Bei Blinden sei das Tastvermögen weitaus stärker veranlagt. „Führe ich ausschließlich Sehbehinderte durch das Museum, schaffen wir meist mehr Skulpturen. Sie sind schneller als Sehende“, erzählte Kastner. Doch auch am Sonntag legte ihre Führungsgruppe bei vier Exponaten Hand an, darunter „Der große Amphion“ von Henri Laurens.
Hauseigene Kellerwerkstatt
Um ihr frisch erprobtes Tastvermögen gleich noch einmal zu testen, lud Museumsmitarbeiterin Sybille Kastner nach der Führung zum Wettbewerb in der hauseigenen Kellerwerkstatt: Fünf verschiedene Stoffe – darunter Gips und Wachs – galt es zu erfühlen. Sehen war auch dieses Mal verboten, und so mussten die Teilnehmer auf andere Eigenschaften achten. Entscheidend dabei: Das Gewicht und die Oberfläche, aber auch die Wärme eines Stoffes. „Holz etwa ist warm und stumpf, Stein dagegen kalt und schwer“, erläuterte Kastner.
Doch für die Zukunft wünscht sich Kastner eine noch intensivere Beschäftigung mit dem Ertasten von Kunst: „Ich fände es toll, wenn das Museum speziell geeignete Exponate dauerhaft freigibt“, sagte die Kunstvermittlerin. Diese sollten Besucher dann auch direkt mit den Händen berühren dürfen. Während der Führung trugen die Teilnehmer nämlich weiße Handschuhe – ein bisschen Verbot musste dann doch sein.