Duisburg. Das Ministerium prüft weiterhin die Blitz-Stilllegung der Arztrufzentrale. Im Zusammenhang mit Aufträgen an Sitel stellen sich weitere Fragen.
Das Düsseldorfer Gesundheitsministerium untersucht seit Wochen die Blitz-Stilllegung der Arztrufzentrale NRW (ARZ) im Duisburger Hoist-Haus. Die aufsichtsrechtliche Prüfung soll klären, ob die Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Auflösung des Callcenters Unterrichtungspflichten gegenüber dem Betriebsrat missachtet oder andere Rechtsverstöße begangen haben. Minister Karl-Josef Laumann (CDU) sagte Ende März im Gesundheitsausschuss des Landtags, sein Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) werde auch den von der SPD-Fraktion aufgegriffenen „Vorwürfen der Vetternwirtschaft“ nachgehen (wir berichteten). In diesem Zusammenhang prüfen MAGS und Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNo) weitere Vorgänge in der ARZ.
Mehrere Mitarbeitende der freigestellten Belegschaft behaupten gegenüber unserer Redaktion, dass Pakete über Callcenter-Leistungen, mit denen die ARZ die Sitel-Gruppe (heißt seit März „Foundever“) 2020 und 2021 beauftragte, von der ARZ nicht ausgeschrieben worden seien. Es geht um hohe Summen öffentlicher Gelder für die Vergabe von Corona-Impfterminen in NRW.
116117-Callcenter: Begünstigung von Sitel in Führungskrise?
Zur Erinnerung: Der Callcenter-Konzern „Foundever“ nimmt seit der ARZ-Stilllegung am 7. März im Auftrag der KVNo Anrufe an, die unter der Hotline 116117 des ärztlichen Notdienstes eingehen. Früher war dies Aufgabe der ARZ-Telefonistinnen und -Telefonisten.
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Brisant: Die ehemalige Leiterin des ARZ-Projektbüros – sie war wenige Monate vor der Stilllegung von der ARZ zur KVNo gewechselt – ist seit vielen Jahren mit einem Angebotsmanager der Sitel-Gruppe verheiratet. Sie war bei der ARZ auch Ansprechpartnerin für externe Dienstleister wie Sitel. Und hatte großen Einfluss in einer Zeit, in der das Unternehmen unter anderem wegen der Homeoffice-Arbeit und wegen des gesundheitlich schwer angeschlagenen Geschäftsführers in einer gewaltigen Führungskrise steckte. Die von der KVNo angeführten „tiefgreifenden strukturellen Defizite“ hatte der gesamten Geschäftsleitung auch ein Unternehmensberater bescheinigt.
Mitte 2022 war die ARZ-Projektchefin nach Angaben aus der Belegschaft auch für die Ausschreibung eines großen Auftrags inhaltlich mitverantwortlich gewesen: Ein externer Dienstleister sollte etwa die Hälfte der jährlich rund 1,2 Millionen Anrufe unter 116117 annehmen. Ihr Ehemann war auf der anderen Seite nach Angaben bei Sitel „einer von drei BID-Managern, die bei der redaktionellen Erstellung des Angebots unterstützt haben“, wie die KVNo zuletzt erklärte. Es gab mehrere Bewerber, Sitel erhielt den Zuschlag.
Die KVNo habe keine Anhaltspunkte dafür, dass Sitel bei der Auftragsvergabe durch die ARZ bevorzugt worden sei, erklärte KVNo-Sprecher Sven Ludwig am 22. März. Für die ARZ habe deren Geschäftsführer „die Entscheidungen nach einem dokumentierten, und vergabekonformen Ausschreibungsprozess getroffen“ (wir berichteten). Das MAGS prüft dennoch, inwieweit familiäre Verhältnisse Einfluss auf die Auftragsvergabe hatten.
Sitel telefonierte in der Corona-Krise für die Arztrufzentrale
Sitel war bereits vor dieser Ausschreibung im Auftrag der ARZ aktiv gewesen. So auch in der ersten Phase der Corona-Pandemie 2020, als die eher unbekannte Hotline 116117 massenhaft von verunsicherten Bürgern gewählt wurde. Um diesem Ansturm etwas entgegenzusetzen, telefonierten bereits Sitels „Call Agents“ mit Hilfe von Antwort-Leitfäden mit.
Und ab dem 25. Januar 2021 wickelte das Land Nordrhein-Westfalen die Terminvergabe für die Corona-Impfungen der Über-80-Jährigen auch über die 116117 ab. Mindestes 1000 Mitarbeiter der Firma Sitel, so erklärte es der ARZ-Geschäftsführer damals zumindest bei einem Pressetermin, waren eingespannt, um die Terminanfragen der 850.000 Senioren annähernd bewältigten zu können. (Dennoch hatten viele Seniorinnen und Senioren in NRW teils massive Probleme, unter der 116117 durchzukommen und einen Termin für die Impfung telefonisch zu ergattern.)
Wurden diese beiden „Corona-Aufträge“, die Sitel ausführen durfte, von der Arztrufzentrale ausgeschrieben? Welchen Wert hatten diese Aufträge? Bestand eine Ausschreibungspflicht?
Für die KVNo antwortete deren Sprecher Sven Ludwig auf diese und andere Fragen am 20. April schriftlich: „Wir stehen zum gesamten Thema ARZ GmbH/116117 in engem Austausch mit dem MAGS als der für uns zuständigen Behörde. Daher bitten wir um Verständnis, dass wir derzeit keine weiteren Angaben zu Sachverhalten wie z. B. Kosten für Auftragsvergaben machen.“
MAGS: Impf-Hotline wurde ausschließlich von Sitel und Majorel bedient
Für die Aufsichtsbehörde, das Ministerium, antwortet Sprecher Carsten Duif auf erneute Nachfrage am 9. Mai: „Die Kassenärztlichen Vereinigungen konnten zu diesen Fragen gegenüber dem MAGS bislang keine verbindlichen Aussagen machen. Die Auftragsvergaben, für die der Geschäftsführer der ARZ GmbH verantwortlich war, befinden sich demnach noch in der Prüfung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen.“
Ob die Aufträge hätten ausgeschrieben werden müssen, könne das MAGS nicht beurteilen, bevor die KVNo den Vorgang nicht geprüft habe, so die Auskunft aus dem Laumann-Ministerium. Es klingt, als prüfe in dieser Sache nicht die Aufsichtsbehörde die Kassenärztliche Vereinigung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern die KV ihre Tochtergesellschaft ARZ, die sie gerade auflöst (siehe Infos unten).
Welche Summe die ARZ den externen Dienstleistern für die Impfterminvergabe gezahlt habe, sei dem MAGS zurzeit noch nicht bekannt. Die Anrufe für die Impf-Hotline, so Sprecher Duif, seien „ausschließlich von externen Callcentern bedient“ worden, von „Sitel und Majorel. Eine Aufschlüsselung nach den beteiligten Auftragnehmern und den gezahlten Summen konnten die Kassenärztlichen Vereinigungen in der Kürze der Zeit dem MAGS nicht vorlegen.“
KVNo rechnete mit Ministerium 60 Millionen Euro für Corona-Impfterminservice ab
Zur Einordnung: Hier sind öffentliche Gelder in beträchtlichem Umfang geflossen. Zum Wert des Auftrags erläuterte Ministeriumssprecher Duif Ende März allgemein: „Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben insgesamt Rechnungen der Arztrufzentrale in Höhe von rund 60 Millionen Euro für die Betriebs- und Personalkosten des Corona-Impfterminservices NRW mit dem MAGS abgerechnet.“
Es wird wohl noch etwas dauern, bis Ergebnisse der Untersuchung durch das MAGS vorliegen. „Aufgrund der umfangreichen Sachverhaltsklärung ist die Prüfung noch nicht abgeschlossen“, so Duif. Dies erfolge „so schnell wie möglich. Aber auch in diesem Fall gilt: Sorgfalt geht vor Schnelligkeit.“
>> Auflösung der Arztrufzentrale: Noch kein Sozialplan
- Die Angestellten der Arztrufzentrale NRW, die bislang keinen Aufhebungsvertrag unterschrieben haben, sind weiterhin widerruflich unter Fortzahlung ihrer Vergütung freigestellt. Unterm Strich bleibe für sie weniger Gehalt als vor der Freistellung, weil ihre zuvor steuerfreien Zuschläge für Nacht- und Feiertagsdienste nun versteuert worden seien, heißt es aus der Belegschaft.
- Der Betriebsratsvorsitzende der Arztrufzentrale, Guido Geduldig, sagte jüngst, das Gremium befinde sich mit den Arbeitgebervertretern noch immer nicht in Verhandlungen über einen Sozialplan, sondern erst in Sondierungsgesprächen.
- Die Verhandlungen sollen zwei von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNo) und der KV Westfalen-Lippe (KVWL) mit der Auflösung ihrer Arztrufzentrale NRW GmbH beauftragte Liquidatoren führen.