Duisburg. Neue Aufregung um die stillgelegte Arztrufzentrale NRW: Warum die Leitung in der Kritik stand und warum es Vorwürfe der Vetternwirtschaft gibt.

Einen Monat ist die viel kritisierte Stilllegung des 116117-Callcenters nun her: Am 7. März hatten die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe die Angestellten ihrer Arztrufzentrale NRW (ARZ) überraschend von jetzt auf gleich freigestellt und aus dem Hoist-Haus ausgesperrt. Das Gesundheitsministerium prüft wie berichtet, ob die KVen dabei Rechtsverstöße gegen Unterrichtungspflichten begingen. Obendrein erheben Beschäftigte nun Vorwürfe der Mauschelei gegen eine ehemalige Kollegin. „Wir fühlen uns verraten und verkauft“, fasst eine Mitarbeiterin die Stimmung zusammen.

Was sie meint: Im Gesundheitsausschuss des Landtags hatte jüngst die stellvertretende SPD-Fraktionschefin Lisa Kapteinat Minister Karl-Josef Laumann (CDU) im Zusammenhang mit der umstrittenen Stilllegung auch auf „Vorwürfe der Vetternwirtschaft“ angesprochen. Über diese hatte zuvor die Rheinische Post berichtet. In der Belegschaft werden die Vorwürfe schon länger offen diskutiert:

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Die ehemalige Leiterin des ARZ-Projektbüros – sie war vor einem halben Jahr zur KV Nordrhein (KVNo) gewechselt – ist seit vielen Jahren mit einem Angebotsmanager der Sitel-Gruppe verheiratet. Und: „Jeder bei uns wusste, dass sie die Ansprechpartnerin für Sitel bei uns war“, erklärt einer ihrer früheren Kollegen. Mehrere Mitarbeiterinnen bestätigen dies.

Arztrufzentrale NRW: Laumann-Ministerium will auch Auftragsvergabe prüfen

Brisant: Die Sitel-Gruppe (heißt seit dem 1. März „Foundever“) ist der Callcenter-Konzern, dessen „Call Agents“ seit der Schließung des Duisburger Callcenters am 7. März die Anrufe im Auftrag der KVNo annehmen, die unter der Hotline 116117 des ärztlichen Notdienstes eingehen. In der Vergangenheit war dies der Job der ARZ-Telefonistinnen und -Telefonisten.

Laumann versicherte im Ausschuss, sein Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) werde bei seiner aufsichtsrechtlichen Prüfung auch den Anschuldigungen zur Auftragsvergabe nachgehen.

KVNo-Sprecher Sven Ludwig und MAGS-Sprecher Carsten Duif bestätigen die eheliche Verbindung. Duif erläuterte am 22. März: „Nach den bisherigen Rückmeldungen der KVNo waren die Personen bei der Auftragsvergabe nicht beteiligt.“ Das Ministerium werde „dem aber nachgehen“ und prüfen, „inwieweit familiäre Verhältnisse Einfluss auf Auftragsvergaben an den Call-Center-Dienstleister Sitel hatten“, so der Sprecher. Denn grundsätzlich dürften „Verwandtschaftsverhältnisse keinen Einfluss haben“ auf „Auftragsvergaben von Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Aufgaben für den Staat übernehmen“.

Freigestellte Beschäftigte der Arztrufzentrale NRW protestierten am 24. März 2023 vor der Verwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNo) in Düsseldorf gegen die Auflösung der Arztrufzentrale.
Freigestellte Beschäftigte der Arztrufzentrale NRW protestierten am 24. März 2023 vor der Verwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNo) in Düsseldorf gegen die Auflösung der Arztrufzentrale. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

KVNo-Sprecher Ludwig erklärt, der Ehemann der ehemaligen ARZ- und heutigen KVNo-Angestellten sei bei Sitel „BID-Manager“. Mitarbeiter in diesen leitenden Vertriebspositionen erarbeiten Angebote für potenzielle Kunden. „Nach unseren Informationen ist mit der Position keine entscheidungsrelevante Befugnis verbunden“, relativiert Ludwig. Er räumt jedoch ein: Der Sitel-Mitarbeiter war „einer von drei BID-Managern, die bei der redaktionellen Erstellung des Angebots unterstützt haben“.

Arztrufzentrale: 60 Millionen Euro für Corona-Impfterminservice

Gemeint ist damit der wohl erste Auftrag der ARZ an Sitel in der Corona-Pandemie: Der ebenfalls am 7. März freigestellte Geschäftsführer der Arztrufzentrale, Dr. Michael Klein, hatte Anfang 2021 bei einem Pressetermin erklärt, mindestes 1000 Sitel-Mitarbeiter unterstützten die seinerzeit 200 ARZ-Beschäftigten bei der Bewältigung der Impfterminanfragen aus ganz NRW.

Wie viel genau Sitel kassierte, beantwortet die KVNo nicht. Im Gesundheitsministerium wusste man es Ende März noch nicht. Zum Wert des Auftrags erläuterte Ministeriumssprecher Duif allgemein: „Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben insgesamt Rechnungen der Arztrufzentrale in Höhe von rund 60 Millionen Euro für die Betriebs- und Personalkosten des Corona-Impfterminservices NRW mit dem MAGS abgerechnet.“

Die Ehefrau des Sitel-Managers war als Teammanagerin schön länger mit Projektarbeit beauftragt und laut übereinstimmender Darstellung mehrerer Mitarbeiter vom ersten Auftrag an Ansprechpartnerin für Sitel im ARZ-Callcenter. 2021 wurde sie offiziell zur Leiterin eines Projektbüros befördert. Diese Stabsstelle war neu eingerichtet worden. Seither berichtete die Projektleiterin auch offiziell direkt an Geschäftsführer Klein, den sie mitunter auch vertrat.

Mitarbeiter: Leiterin des Projektbüros hatte entscheidenden Einfluss

Die Leiterin der Stabsstelle Projekte gehörte zwar formal nicht der Geschäftsleitung an, sollte aber – das bestätigt auch KVNo-Sprecher Ludwig – mit dieser jene „tiefgreifenden strukturellen Defizite“ in der Führung der Beschäftigten abstellen, die der Arztrufzentrale zuletzt von den KVen vorgeworfen wurden: Es gab zum Beispiel keine bedarfsgerechte Personalplanung, keine Möglichkeiten zur Arbeits- und Leistungskontrolle. Dafür zwischenzeitlich sogar eine separate Etage fürs Führungsteam: Es hatte kurzzeitig zusätzlich das oberste Stockwerk des Hoist-Hochhauses angemietet, das sogenannte Penthouse. Die Telefonisten im ersten Stock sprachen von einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“.

Mitarbeitende berichten, die machtbewusste Leiterin der Stabsstelle habe zweifelsfrei zum engsten Kreis der Entscheider gezählt, großen Einfluss gehabt und bei der ARZ sogar „die Hosen angehabt“. Der eigentlichen Geschäftsleitung warfen andererseits nicht nur Mitarbeitende mangelnde Führung vor.

Unternehmensberater bescheinigte ARZ-Leitung viele Defizite

Das tat auch ein von den KVen beauftragter Unternehmensberater, der Ende 2021 Beschäftigte befragte. Ergebnisse seiner Qualitätsanalyse stellte der Betriebsrat der Belegschaft bei Betriebsversammlungen vor, erinnert sich eine Mitarbeiterin. Der Berater habe dem Team demnach ein hohes Ausbildungsniveau und eine starke Verbundenheit mit der ARZ bescheinigt, eine gute Motivation.

Dagegen identifizierte der Berater nach Informationen unserer Redaktion gravierende Defizite bei der Geschäftsführung: Es fehle an Priorisierung und Prozessen, Instrumenten und Konzepten – kurzum: an Führung. So könne sich die Arztrufzentrale nicht weiterentwickeln. Stattdessen müsse das Projektbüro ausgebaut werden.

Dessen Leiterin, die Ehefrau des Sitel-Managers, verließ jedoch die Arztrufzentrale ein halbes Jahr vor deren Stilllegung: Sie arbeitet seit Oktober 2022 als Projektmanagerin für die KVNo, bestätigt deren Sprecher.

Zuvor, im Sommer 2022, war sie nach Angaben von Mitarbeitenden bei der Arztrufzentrale für die Ausschreibung eines weiteren großen Auftrags inhaltlich mitverantwortlich gewesen: Ein externer Dienstleister sollte etwa die Hälfte der jährlich rund 1,2 Millionen Anrufe unter 116117 annehmen. Es gab mehrere, auch große Bewerber. Den Zuschlag für dieses Überlauf-Call-Center erhielt ebenfalls Sitel.

KVNo: „Begriff ,Vetternwirtschaft’ irreführend“

Die Frage, ob die Leiterin des Projektbüros und ihr bei Sitel/Foundever angestellter Ehemann an dieser Auftragsvergabe beteiligt waren, beantwortet KVNo-Sprecher Ludwig nicht direkt: Für die ARZ habe demnach deren Geschäftsführer „die Entscheidungen nach einem dokumentierten und vergabekonformen Ausschreibungsprozess getroffen, aufseiten der Firma Sitel war es die dort zuständige Person für den Vertrieb. Die Mitarbeiterin war zu diesem Zeitpunkt bei der ARZ im Projektmanagement tätig (nicht leitend).“

Die KVNo habe keine Anhaltspunkte dafür, dass Sitel bei der Auftragsvergabe durch die Arztrufzentrale oder später durch die Kassenärztliche Vereinigung bevorzugt worden sei, erklärte Sven Ludwig am 22. März: „Der Begriff ,Vetternwirtschaft‘ ist irreführend und entbehrt unseres Wissens jeglicher Grundlage.“

Die Firma Foundever ließ mehrere Nachfragen unserer Redaktion zu den Vorwürfen unbeantwortet.

Betriebsrat weist Kritik der KV zurück

Warum die ARZ-Geschäftsleitung um Dr. Michael Klein die vom Unternehmensberater benannten Defizite nicht beseitigen konnte? Für die KVNo antwortet Sven Ludwig, die Gründe seien „vielfältig und vielschichtig“. Letztlich hätten viele von den KVen „geforderte Restrukturierungsmaßnahmen auch wegen Uneinigkeit mit dem Betriebsrat nicht umgesetzt werden“ können.

Der Betriebsrat, entgegnet dessen Vorsitzender Guido Geduldig, habe immer „als Sündenbock herhalten“ müssen. „Wir sehen doch leider durch die Stilllegung der ARZ, dass der Betriebsrat nicht viel Macht hatte.“ Die Arbeitgeber hätten zudem die Einigungsstelle anrufen können, argumentiert Geduldig. „Aber dieses Instrument zur konstruktiven Lösung haben die KVen nicht genutzt.“ Stattdessen hätten sie mit Betriebsrat und Belegschaft trotz etlicher Anfragen seit anderthalb Jahren nicht über die Zukunft der Arztrufzentrale gesprochen.