Duisburg. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben 155 Beschäftigte der Arztrufzentrale freigestellt. Der Rauswurf und die 116 117 werden Thema im Landtag.
„Wir sind alle traumatisiert“, sagte eine der 30, 40 Frauen, die am Dienstag zu einer Mahnwache am Duisburger Hauptbahnhof gekommen sind. Einige tragen über ihrer Kleidung blaue Müllsäcke, um ihren Protest auszudrücken. In solche Säcke hatten sie eine Woche zuvor, am 7. März, notdürftig ihre privaten Sachen eintüten müssen, weil ihr Arbeitgeber sie überraschend und sofort freigestellt hatte und aus dem Callcenter im Hoist-Haus drängte (wir berichteten). „Das war so demütigend.“ Arbeitgeber der insgesamt 155 Betroffenen sind die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein (KVNo) und Westfalen-Lippe (KVWL). Diese wollen ihre gemeinsame Arztrufzentrale NRW GmbH (ARZ) auflösen und organisieren den Betrieb der Notdienst-Hotline 116 117 in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich seit dem 7.3. getrennt voneinander. Ohne ARZ. Ohne deren Angestellte. Seit der Berichterstattung über den Rauswurf und dessen Ablauf stehen die Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Kritik.
Nicht nur Belegschaft und Betriebsrat stellen öffentlich Fragen, sondern auch Gewerkschaften und SPD. Die Partei fordert einen Bericht der Landesregierung. So ungewöhnlich der Umgang der Kassenvereinigungen mit ihren langjährigen Angestellten im Duisburger Callcenter ist, so groß ist die Anteilnahme am Schicksal der mehrheitlich weiblichen Belegschaft. Zur Mahnwache etwa waren neben Gewerkschaftsvertretern auch Duisburgs Stadtdirektor Martin Murrack und drei Landtagsabgeordnete der SPD gekommen: Sarah Philipp und Frank Börner aus Duisburg sowie Lena Teschlade, Sprecherin ihrer Fraktion im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales.
Notdienst-Hotline 116 117: SPD befürchtet „gesundheitliche Gefährdungen“
Börner schimpft über „Raubtier-Kapitalismus im quasi-öffentlichen Dienst“, Sarah Philipp spricht von einer „brutalen, nicht nachvollziehbaren Art, mit Menschen umzugehen“. Der Wegfall von 155 Arbeitsplätzen sei wie die Schließung der Galeria-Filiale mit 64 Angestellten eine „schlimme Nachricht für Duisburg“, so Philipp.
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Lena Teschlade bittet die Landesregierung um einen schriftlichen Bericht in der kommenden Ausschusssitzung. Das NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales von Karl-Josef Laumann (CDU) solle als Aufsichtsbehörde der Kassenärztlichen Vereinigungen 13 Fragen beantworten. Etwa: „Welche Gründe hatte der Abbau oder die Auslagerung von Personal bei der Arztrufzentrale NRW GmbH? In welchen Beschäftigungsverhältnissen stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jetzt für die Telefonnummer 116 117 zuständig sind?“
Die Arbeit könne nicht von einem „x-beliebigen Callcenter übernommen werden“, erklären die Duisburger SPD-Abgeordneten. „Das Personal muss entsprechend geschult sein.“ Ansonsten könne dies „zu gesundheitlichen Gefährdungen“ der Patienten führen, die sich an die Notdienst-Hotline 116 117 wenden.
KVNo-Sprecher bestätigt Auftrag an Sitel
Sven Ludwig, Pressesprecher der KVNo, hat am Mittwochnachmittag auf erneute Nachfrage schriftlich bestätigt, dass Angestellte der Sitel-Unternehmensgruppe zurzeit Anrufe entgegennehmen: „Die Firma Sitel erbringt derzeit für die KVNo Telefonie-Dienstleistungen für Patientinnen und Patienten im Bereich des Terminservice – einer neben der Notdiensttelefonie ergänzenden 116 117-Aufgabe sowie für Mitglieder der KVNo.“
Die Sitel-Telefonistinnen und -telefonisten arbeiteten an den „Standorten des Dienstleisters, z. B. in Krefeld“, so der Sprecher. Zur Frage nach deren Qualifikation antwortet Ludwig: „Die Sitel-Mitarbeitenden erhalten die hierfür maßgeblichen Initialschulungen und Weiterbildungen, um ein hohes Qualifikationsniveau sicherzustellen.“
Sitel war von den Kassenärztlichen Vereinigungen bereits im Herbst beauftragt worden und soll als externer Dienstleister seither circa die Hälfte aller Anrufe übernommen haben, heißt es aus der ARZ-Belegschaft. KVNo-Sprecher Ludwig bestätigt: „Die Firma Sitel war auch bereits ein Callcenter, das die ARZ bei Belastungsspitzen unterstützt hat.“
Betriebsrat: Stellen in der Pandemie stark reduziert
Die Kassenvereinigungen hatten in einer Pressemitteilung vom 7. März erklärt, bei der Umstrukturierung gehe es darum, „die Qualität und die Erreichbarkeit der 116 117 in NRW zu verbessern“. Guido Geduldig, Betriebsratsvorsitzender der Arztrufzentrale, sagt dazu: „Qualitätsdefizite sind uns gegenüber nicht thematisiert worden.“
Es gebe zudem logische Gründe, warum Anrufer zuletzt mitunter lange warten mussten: Im April 2020 hätten im Callcenter noch 214 Angestellte gearbeitet, zuletzt 155. Stellen hätten nicht mehr nachbesetzt werden dürfen. „Wir sind – in der Pandemie – um ein Viertel reduziert worden.“ Zudem sei seit dem Herbst auch Sitel mitverantwortlich für lange Wartezeiten gewesen.
Anfang März erst hatte sich der KVNo-Vorstandsvorsitzende Dr. Frank Bergmann in einer Stellungnahme auch zum Ziel einer besseren Erreichbarkeit geäußert: „Ein Ausbau der 116 117 lässt sich nicht ohne mehr Personal umsetzen.“ Die damit „verbundenen Kosten sind perspektivisch nur mit mehr Finanzierungsverantwortung bei den Krankenkassen zu bewältigen“, so Bergmann. Im selben Zusammenhang lehnte Bergmann die Vorstellung der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ ab, eine eher unterdurchschnittlich funktionierende 116 117 zu sanktionieren. Dies sei seiner Ansicht nach „völlig indiskutabel“.
Wer unterschreibt, soll mehr kassieren
Die zuständige Verdi-Sekretärin für Sozialversicherungen, Gabi Lenkenhoff, fordert wegen der „Massenentlassungen“, Minister Laumann müsse sich äußern. Es müsse geklärt werden, „ob hier alles rechtens läuft: Hier sind schließlich öffentliche Gelder geflossen“. Den Angestellten rät Verdi, sich individuell juristisch beraten zu lassen. Die Beschäftigten haben inzwischen Auflösungsvereinbarungen angeboten bekommen und lassen diese prüfen.
In der berüchtigten Sieben-Minuten-Präsentation hatten die Liquidatoren angekündigt, dass all jene mehr Geld erhalten, die bis Ende März eine Aufhebungsvereinbarung unterschreiben. Für sie erhöhe sich der Grundabfindungsfaktor von 0,35 auf 0,45 (Jahre Betriebszugehörigkeit mal Brutto-Monatsgehalt mal 0,35 bzw. 0,45), zusätzlich solle es Abfindungszulagen für jedes unterhaltsberechtigte Kind (1500 Euro) und bei Schwerbehinderung (3000 Euro) geben.
Der Betriebsratsvorsitzende Guido Geduldig spricht von „Lockangeboten“. Die Position des Betriebsrates bei den anstehenden Verhandlungen über den Sozialplan hänge davon ab, „ob die Belegschaft solidarisch zusammensteht“.
Perspektiven bei Stadt und Krankenversicherung
Stadtdirektor Martin Murrack war am Dienstag als Vertreter des Oberbürgermeisters (zurzeit bei der Immobilienmesse MIPIM in Cannes) auf den Portsmouthplatz gekommen. Er sei „erschüttert, wie mit den Mitarbeitern umgegangen wird. Eine Frechheit.“
Unter den Protestierenden brachte er auch seine E-Mail-Adresse in Umlauf. Ihm könne schreiben, wer sich für eine Stelle bei der Stadtverwaltung interessiert: „Wir können aber nichts versprechen“, betonte Murrack, keine falschen Hoffnungen wecken zu wollen. „Aber wir haben auch Callcenter und immer wieder Vakanzen, auch im Gesundheitsamt. Wir prüfen Möglichkeiten.“
Verdi-Sekretärin Lenkenhoff berichtete, es habe auch eine Infoveranstaltung und Angebote einer Krankenkasse für Mitarbeitende gegeben. Diese treiben zurzeit noch viele Unsicherheiten um. Eine Beschäftigte berichtet: „Wir dürfen immer noch nicht an unsere Sachen im Büro, haben immer noch keinen Zugriff auf unsere privaten Laufwerke.“
>> ARZTRUFZENTRALE UND KASSENÄRZTLICHE VEREINIGUNGEN IN NRW
- Bei der Arztrufzentrale NRW galt ein an den öffentlichen Dienst angelehnter Haustarifvertrag. Die Mitarbeitenden stammen aus medizinischen oder Pflegeberufen.
- Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland, in dem es zwei Kassenärztliche Vereinigungen gibt.
- Kassenärztliche Vereinigungen betreiben ärztliche Bereitschaftsdienste, weil sie sicherstellen müssen, dass Patienten auch nachts, an Wochenenden und Feiertagen einen niedergelassenen Arzt kontaktieren können. Dieser ärztliche Notdienst ist nicht zu verwechseln mit dem Notarztdienst, der in lebensbedrohlichen Situationen unter 112 zu erreichen ist.
- Seit 2012 gilt bundesweit einheitlich die Rufnummer 116 117 für alle ärztlichen Bereitschaftsdienste in Deutschland.