Duisburg. Das NRW-Gesundheitsministerium prüft, ob die Stilllegung des 116 117-Callcenters rechtmäßig war. So begründen die KVen die Blitz-Freistellung.

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat die Kassenärztlichen Vereinigungen für ihr Vorgehen bei der Auflösung des in Duisburg ansässigen 116 117-Callcenters scharf kritisiert. Mehr noch: Sein Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) prüft nach eigenen Angaben, ob den KVen Rechtsverstöße vorzuwerfen sind. In der Aufsichtsbehörde hat man Zweifel daran, dass die Betriebsstilllegung der Arztrufzentrale NRW (ARZ) rechtmäßig abgelaufen ist.

Artikel über die Auflösung der Arztrufzentrale NRW in Duisburg

„Insbesondere die Zeitpunkte“, zu denen ARZ-Betriebsrat und -Wirtschaftsausschuss informiert wurden, „lösen rechtliche Bedenken mit Blick auf Unterrichtungspflichten aus“, schreibt der Minister in einem Bericht. Diesen hatte die SPD-Fraktion für den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales angefordert. Laut Laumann seien „das Vorgehen der kurzfristigen Bekanntgabe“ sowie weitere Aspekte der Liquidation „Gegenstand einer zurzeit laufenden aufsichtsrechtlichen Prüfung“.

Arztrufzentrale NRW in Duisburg: MAGS kritisiert Kassenärztliche Vereinigungen

Die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein (KVNo) und Westfalen-Lippe (KVWL) hatten die laut Betriebsrat 155 Mitarbeitenden am 7. März mit einer siebenminütigen Online-Präsentation über ihre sofortige Freistellung und die Stilllegung informiert. Geschäftsführung und Betriebsrat war das Aus, 60 beziehungsweise 30 Minuten zuvor mitgeteilt worden. Kurz darauf hatten die Mitarbeitenden keinen Zugriff mehr auf ihre Computer und wurden aus dem Hoist-Haus ausgesperrt.

Mitarbeiterinnen der Arztrufzentrale NRW am Tag nach ihrer Freistellung bei einer Mahnwache vor dem Hoist-Haus in Duisburg.
Mitarbeiterinnen der Arztrufzentrale NRW am Tag nach ihrer Freistellung bei einer Mahnwache vor dem Hoist-Haus in Duisburg. © FUNKE Foto Services | Ant Palmer

Minister Laumann habe nach Bekanntwerden des Ad-hoc-Rauswurfs das Gespräch mit den KV-Chefs gesucht. Diese hätten die „spätestmögliche Information“ der Betroffenen damit begründet, „dass die Funktionsfähigkeit der 116 117 und damit der gesetzliche Auftrag“ durch eine frühere Information der Belegschaft „möglicherweise beeinträchtigt worden wäre“, antwortet Laumann in seinem Bericht auf Fragen der SPD.

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Das Vorgehen der KVen werfe jedoch Fragen auf, da das Betriebsverfassungsgesetz eine rechtzeitige und umfassende Unterrichtung des Betriebsrats vorschreibe für „geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft zur Folge haben können“. Das MAGS finde es „sehr bedauerlich“, dass dies nicht passiert sei. „Das Vorgehen der KVen, wie es dem Ministerium bislang berichtet wurde, entspricht nicht dem Bild von sozialpartnerschaftlichem Umgang“, rügt Laumann die Entscheider.

116 117: Trennungspläne schon 2019 bekannt

Dabei war die Grundsatzentscheidung offensichtlich vor mehr als drei Jahren bereits gefallen: Im Dezember 2019 kündigte der damalige Vorsitzende der KVWL auf dem Forum der Krankenhausgesellschaft NRW an, dass KVWL und KVNo ihre Kooperation bei der Arztrufzentrale in Duisburg Ende 2022 bis Mitte 2023 beenden werden. So steht’s in einem Artikel der Ärztezeitung vom 23.12.2019.

Wie der Verfasser schreibt, habe der bis heute amtierende KVNo-Chef Frank Bergmann auch steuerliche Gründe angeführt: Seit die Arztrufzentrale nicht mehr nur von der KVNo betrieben werde, sondern auch von der KVWL – seit 2011 also –, sei diese keine KV-Eigeneinrichtung mehr, so Bergmann seinerzeit. Die Folge sei der Verlust der sogenannten Organschaft und somit die Mehrwertsteuerpflicht. „Allein in Nordrhein geht es um eine siebenstellige Summe“, zitierte die Ärztezeitung Bergmann Ende 2019.

Betriebsrat kritisiert „beharrliches Schweigen“

Über das also seit Jahren geplante Ende der Kooperation und die Folgen für die Beschäftigten sei die Belegschaft jedoch gar nicht informiert worden, kritisiert der ARZ-Betriebsratsvorsitzende Guido Geduldig: „Wir haben seit anderthalb Jahren vergeblich versucht, von den Gesellschaftern Informationen zu erhalten, wurden aber immer wieder vertröstet und hingehalten. Es deutet viel darauf hin, dass das beharrliche Schweigen ein großangelegtes Täuschungsmanöver war.“

Die Belegschaft hatte zwar damit gerechnet, künftig von Köln aus arbeiten zu müssen, wo die KVNo ein neues Verwaltungsgebäude für mehr als 400 Mitarbeiter errichtet. Von der Ad-hoc-Betriebsstilllegung und dem bevorstehenden Arbeitsplatzverlust aber wurden die Mitarbeitenden kalt erwischt.

Karl-Josef Laumann: Ministerium kritisierte Zeitplan

Laut Laumanns Bericht hatten die KVen Ende 2021 eine „Analyse zur Produktivität, Dienstleistungsqualität und Zukunftssicherheit der Arztrufzentrale initiiert“. Das MAGS sei im Juni 2022 über die „angedachten organisatorischen Veränderungen vertraulich informiert“ worden. Details seien damals noch nicht mitgeteilt worden.

Am 23. Dezember 2022 hätten die KVen geschrieben, dass sie die Neuorganisation der 116 117 von zwei Kanzleien begleiten lassen und dass die Rechte der Belegschaft berücksichtigt würden. „Insofern ging das MAGS davon aus, dass der Prozess rechtskonform gestaltet wird und aufsichtsrechtliche Maßnahmen nicht erforderlich waren“, antwortet Laumann auf von der SPD gestellte Fragen zur Verantwortung des MAGS.

„Über konkrete Aspekte der geplanten Neuorganisation“ sei dieses „dann explizit vertraulich“ erst „in einer Besprechung am 1. Februar 2023 informiert“ worden, so Laumann. Das Ministerium habe „ausdrücklich den geplanten Zeitpunkt der Entscheidungsbekanntgabe gegenüber den Mitarbeitenden in Frage gestellt“. Es habe die Gesellschafter zudem aufgefordert, den Beschäftigten Übernahmeangebote zu machen.

KVen übernehmen keine ARZ-Mitarbeiter

Vergebens, wie Laumann ebenfalls festhält: Die KVen hätten angegeben, dass sie keine ARZ-Mitarbeitenden übernehmen. Diese haben wie berichtet stattdessen Auflösungsvereinbarungen angeboten bekommen: Wer bis Ende März eine Aufhebungsvereinbarung unterschreibt, erhält mehr Geld; Guido Geduldig spricht von „Lockangeboten“.

In der neuen Organisationsform der 116 117 gebe es direkt bei den KVen angestellte Mitarbeiter und zusätzlich Aufträge an externe Dienstleister, erläutert Laumann. Diese nennt der Minister im Papier für den Ausschuss jedoch nicht. Wie berichtet hat das seit 2021 mehrfach für die 116 117 eingebundene Unternehmen Sitel (seit 1. März: Foundever) Aufgaben der Arztrufzentrale übernommen. Nach Laumanns Angaben sei mit dem Dienstleister „laut KVNo eine überdurchschnittliche Vergütung vereinbart worden“. Details stehen nicht im Bericht.

Laut Arbeitgeber-Bewertungsportal erhalten „Callcenteragents“ bei Foundever ein Bruttomonatsgehalt von etwa 1900 Euro. Das medizinisch ausgebildete ARZ-Team dagegen wurde nach einem Haustarifvertrag entlohnt, Einstiegsgehälter lagen bei mehr als 2500 Euro.

>> PFLICHT UND AUFSICHT / ARZTRUFZENTRALE NRW

  • Die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe hatten die Arztrufzentrale NRW 2011 gemeinsam gegründet. Zuvor hieß das Unternehmen „KV Nordrhein Notdienst und Bürgerberatungs GmbH (NDBB)“.
  • Kassenärztliche Vereinigungen betreiben Bereitschaftsdienste, weil sie sicherstellen müssen, dass Patienten nachts, an Wochenenden und Feiertagen einen niedergelassenen Arzt kontaktieren können.
  • Das NRW-Gesundheitsministerium kann als Aufsichtsbehörde „in Handeln der KVen eingreifen“, wenn Vorgaben aus Bundes- oder Landesrecht oder andere Normen verletzt werden. So prüft das MAGS auch, ob KVNo und KVWL die Rund-um-die-Uhr-Vorgabe einhalten. „Wie diese Erreichbarkeit sichergestellt wird, obliegt in der konkreten Ausgestaltung den KVen“, erklärt das Ministerium.
  • Im Duisburger ARZ-Callcenter waren zeitweise mehr als 200 medizinisch ausgebildete Telefonistinnen und Disponentinnen beschäftigt, um Anrufe über die 116 117 entgegennehmen. Zuletzt waren es laut Betriebsrat 155. Die Arztrufzentrale organisierte und disponierte den ärztlichen Bereitschaftsdienst und weitere Services für die KVen.