Duisburg. Zwei Obdachlose, Micha und Ikke, sind in diesem Winter in Duisburg gestorben. Wie sich Weggefährten erinnern und was sie von der Stadt fordern.

Ein Holzstuhl mit den markanten Metallständern ist mit Fotos, Kerzen und Blumen geschmückt. Auf dem Boden liegen weiß-gedrehte Schneckenhäuser, daneben Rosen und eine Zeichnung: „Rest in Peace“ steht darauf. Die kleine Gedenkstätte auf dem Vorplatz des Duisburger Hauptbahnhofs zieht die Blicke auf sich. Immer wieder bleiben Passanten stehen. Selbst Mark Benecke, der deutschlandweit bekannte Kriminalbiologe, zeigte sich bei Instagram mit dem Stuhl vor der Bahnhofshalle.

Das geschmückte Objekt erinnert an einen Mann, den alle als „Ikke“ kannten. Er ist einer der Obdachlosen, die in diesem Winter in Duisburg starben, mit gerade mal 35 Jahren. Der Stuhl war in den letzten Monaten seines Lebens zu seinem Zuhause geworden. Seine Freundin hat als erste Blumen und Andenken hergebracht. Im Laufe der Zeit ist eine Gedenkstätte entstanden, die die anderen Obdachlosen in Ehren halten.

Ikke ist tot: Stuhl am Duisburger Hauptbahnhof war sein Zuhause – nun ist er ein Erinnerungsort

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„Oh, da ist ja der Rahmen umgefallen“, sagt ein Mann, dem mehrere Zähne fehlen. Man kann es sehen: Auch er lebt hier, im Freien. Fast liebevoll stellt er den Rahmen wieder auf, so dass ein Foto zu erkennen ist. Es zeigt einen Mann mit dunklen Bartstoppeln und Wollmütze auf dem Kopf: Ikke aus anderen, wohl besseren Zeiten.

Die Kerzen, die Blumen, die Fotos – der Stuhl des gelernten Kochs, der sich aus dem bürgerlichen Leben verabschiedete und auf die Straße ging, ist wie ein Ausrufezeichen. Obdachlose sterben oft im Verborgenen, aber dass Ikke tot ist und vermisst wird, können alle sehen. Sein Stuhl ist zum Treffpunkt geworden, für andere Obdachlose und Hinterbliebene.

Ikkes Stuhl ist zum Treffpunkt geworden, für andere Obdachlose und Hinterbliebene.
Ikkes Stuhl ist zum Treffpunkt geworden, für andere Obdachlose und Hinterbliebene. © Ronja Isabell Khaznakatb

Verein „Herzenswärme“: Fünf Menschen überlebten Winter auf der Straße nicht

Neben Ikke hätten weitere vier Menschen den Winter auf Duisburgs Straßen nicht überlebt, sagt der Verein „Herzenswärme“. Sie seien „durch Kälte und Unterversorgung auf der Straße gestorben“. Eine weibliche Person soll es nicht geschafft haben, die sich überwiegend auf der Straße aufgehalten haben soll. Einen Mann habe man tot in einer Gartenlaube gefunden.

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Ein weiterer Obdachloser, Micha, starb an seiner Liegestätte am Innenhafen. Nach einer Krebsdiagnose hatte er sich aufgegeben.

Sven Falkenhof, einer der engagierten Helfer von „Muddi hilft“, hatte den „immer sehr bescheidenen, zurückhaltenden“ Mann in den letzten Wochen mit Essen versorgt, war immer wieder in die Stadtmitte gefahren, „um nach Micha zu gucken“. Am Ende fand Falkenhof den Obdachlosen. Tot. „Er war schon hartgefroren. Sie mussten ihn aus seinem Schlafsack herausschneiden, da war er wochenlang nicht mehr rausgekommen“, sagt der hauptberufliche Mechaniker.

Die Kerzen, die Blumen, die Fotos – der Stuhl des gelernten Kochs, der sich aus dem bürgerlichen Leben verabschiedete und auf die Straße ging, ist wie ein Ausrufezeichen. Obdachlose sterben oft im Verborgenen, aber dass Ikke tot ist und vermisst wird, können alle sehen.
Die Kerzen, die Blumen, die Fotos – der Stuhl des gelernten Kochs, der sich aus dem bürgerlichen Leben verabschiedete und auf die Straße ging, ist wie ein Ausrufezeichen. Obdachlose sterben oft im Verborgenen, aber dass Ikke tot ist und vermisst wird, können alle sehen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Auch nach seinem Tod blieben die Ehrenamtlichen von „Muddi hilft“ an Michas Seite: Sie organisierten eine „ordentliche Beerdigung und einen Grabstein“, erklärt René Witkowski. „Das Ordnungsamt hat die Beisetzung finanziert. Wir haben in unserer Gruppe Geld für eine Grabplatte gesammelt.“

Ehrenamtliche von „Herzenswärme“: „Es muss etwas passieren!“

Manuela Bexte vom Verein „Herzenswärme“ sieht beim Thema Obdachlosigkeit in Duisburg dringenden Handlungsbedarf. „Es muss etwas passieren“, fordert die Vereinsvorsitzende. Sie wünscht sich, dass Stadt und Hilfsvereine mehr zusammenarbeiten, um bessere Lösungen für die Menschen zu finden. „Wir können die Augen nicht länger verschließen“, sagt Bexte. „Es muss jeder mitbekommen, hey, da passiert was auf unseren Straßen.“

Für Duisburg wünscht sie sich zum Beispiel eine Wärmestube, einen Schutzraum, in dem die Menschen zuverlässig Schutz suchen können. „Und nicht nur für zwei Stündchen am Tag wie zum Beispiel unten im Bahnhof“, so Bexte.

Stadt Duisburg hält Wärmestuben nicht für erforderlich

Auf Nachfrage verweist ein Stadtsprecher darauf, dass es in Duisburg ein breites Spektrum an Hilfsangeboten gebe. „Das städtische Hilfesystem, mit dem Ziel Menschen aus der Obdachlosigkeit zu holen, wurde bereits einigen Vereinen vorgestellt. Wichtig ist uns, durch die Vereine einen niederschwelligen Zugang zum Hilfesystem zu ermöglichen.“

Wärmestuben halte man indes nicht für erforderlich, da obdachlose Personen, die einen Unterbringungswunsch äußern, ganztags untergebracht werden können.

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Das Hilfesystem entwickele sich kontinuierlich weiter. So sei das Projekt „108 Häuser“ dauerhaft etabliert worden. In dem Gemeinschaftsprojekt engagieren sich das Diakoniewerk, der Landschaftsverband Rheinland (LVR), die Stadt, die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gebag sowie die LEG Immobilien AG für Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind und die Zugangsschwierigkeiten zum Wohnungsmarkt haben.

Zudem gebe es das Projekt „Endlich ein Zuhause“, gefördert durch den Europäischen Sozialfond (ESF). „Das Projekt trägt dazu bei, das bestehende System der Wohnungslosenhilfe in Duisburg zu ergänzen und Wohnungslosigkeit gezielt zu bekämpfen“, erklärt der Stadtsprecher.

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