Duisburg. Die „Szene“ sammelt sich vermehrt am Duisburger Bahnhof. Passanten fühlen sich gestört. Gerdi Wittkowski alias „Muddi“ hilft Obdachlosen vor Ort.

„Seit Corona hängen viel mehr Leute auf der Bahnhofsplatte rum. Ständig wird man angebettelt“, schreibt ein Leser, der sich inzwischen unwohl fühlt, wenn er morgens und nachmittags vom Büro zum Zug eilt. Ein Besuch vor dem Bahnhof mit einer, die sich in der Szene auskennt.

Gerdi Wittkowski, Initiatorin von „Muddi hilft“, organisiert einmal im Jahr, jeweils am vierten Advent, einen Weihnachtsmarkt für Obdachlose. Als nun zu Corona-Zeiten die Bahnhofsmission schloss und auch die Tafel zeitweise kein Essen mehr ausgab, verteilten sie und ihre Helfer jeden Morgen Frühstück auf dem Portsmouthplatz. „Der Eindruck des Lesers stimmt, aber eigentlich sind es zwei verschiedene Gruppen, die sich hier treffen. Die einen sind wirklich obdachlos. Andere sitzen erst seit einiger Zeit hier. Ich weiß nicht, wo die vorher waren.“

Je nach Uhrzeit und Pegel kann’s auch schonmal laut werden. „Aber als Muddi kann ich keine Unterschiede machen. Wenn sich jemand anstellt und ein Brötchen haben möchte, bekommt er etwas“, erklärt die 69-Jährige.

Duisburgerin kümmert sich um Szene: Skepsis zu Beginn

Vor 14 Jahren wurde aus Gerdi Wittkowski „Muddi“. „In meiner Schlampenschublade habe ich Kleingeld gefunden und mich gefragt, was ich damit anstellen kann.“ Sie fragte Freunde und Bekannte aus der Motorrad- und Trike-Szene, die gaben noch ein bisschen Geld dazu und so organisierte sie einen Weihnachtsmarkt.

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Anfangs seien die Obdachlosen etwas skeptisch gewesen, vermuteten, dass sie nur auf schöne Presse-Artikel aus sei. Spontan sagte sie zu, ein Jahr später zur gleichen Zeit an gleicher Stelle wieder etwas Gutes zu tun. Als die Betroffenen wieder kamen, wurde sie gelobt: „Du bist wie eine Muddi für uns.“ Seitdem hat die Duisburgerin ihren Namen und kennt so manche Lebensgeschichte von denen, die tagsüber Platte machen.

Lebensgeschichte eines Wohnungslosen

„Einigen sieht man nicht an, dass sie obdachlos sind“, sagt Gerdi Wittkowski. Lothar ist dafür ein gutes Beispiel. Seine Kleidung wäscht er im Waschsalon, die Habseligkeiten lagern in einem Schließfach.
„Einigen sieht man nicht an, dass sie obdachlos sind“, sagt Gerdi Wittkowski. Lothar ist dafür ein gutes Beispiel. Seine Kleidung wäscht er im Waschsalon, die Habseligkeiten lagern in einem Schließfach. © FUNKE Foto Services | Foto: STEFAN AREND

Zum Beispiel die von Lothar. Der 70-Jährige sieht geschniegelt aus. Er ist „fertig mit dem System“, habe nach vielen Jahren mit fester Beschäftigung seinen Job verloren und keiner konnte ihm glaubhaft erklären, warum ausgerechnet seine Arbeitsstelle wegrationalisiert wurde.

Es fand sich kaum ein Anwalt, der seine Interessen vertreten wollte. Auf der Straße achtet er darauf, dass er ordentlich aussieht. Die Kleidung wäscht er in einem Salon. Morgens gibt’s Sonderangebote und die Maschinen seien sauberer als bei einigen Anlaufstellen, die Obdachlose besuchen können. „Ne, guck’ dir doch mal die Klamotten von den anderen an. Ich hatte noch nie Krankheiten“, betont er. Die restlichen Habseligkeiten lagern in einem Schließfach. „Und wie bezahlst du das?“, erkundigt sich Gerdi Wittkowski. „Flaschen sammeln“, antwortet Lothar.

„Wer den Wodka hat, der ist der King“

Mit Straßenromantik habe das Leben rund um den Bahnhof jedenfalls nichts mehr zu tun. „Die da drüben hinterlassen verbrannte Erde, wenn sie hier jeden anschnorren. Dann bleibt für uns nichts mehr übrig, wenn wir mal nach Geld oder etwas zu essen fragen“, erklärt einer. Lothar ergänzt: „Wer den Wodka hat, der ist der King und hat das sagen.“ Jetzt, wo es auf Monatsende zugeht, stehen eher selten Wodka-Flaschen bereit.

„Neulich ist erst wieder jemand nachts überfallen worden“, weiß auch Gerdi Wittkowski, wie prekär die Lage ist. Also schlafen einige tagsüber auf den Bänken vor dem Bahnhof. Andere verstecken ihre Decken und die wenigen Sachen, die sie besitzen. „Jörg hat sein Wohnzimmer immer dabei“, sagt Muddi und zeigt auf den Fahrradanhänger, den sie ihrem Schützling organisiert hat. Vier Isomatten schauen heraus, daneben ein Besen. Damit feudelt er seinen Schlafplatz sauber. Um sich zu betten, braucht er übrigens nur zwei Matten. Die anderen beiden schützen ihn vor Wind und Blicken.

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Zugfahrt durch die Nacht als Schlafplatz

Lothar hingegen ist nachts mit seinem ÖPNV-Ticket unterwegs. Nach 19 Uhr hat er freie Fahrt im ganzen VRR. Bis drei Uhr nachts ist die Fahrkarte gültig. In einem „Vierer“ macht er es sich bequem. Am liebsten fährt er mit einem der alten Regionalexpress-Züge. „Da ist die Sitzfläche breiter als in den neuen RRX-Bahnen. Außerdem gibt’s eine Toilette.“ Kurz bevor das Ticket seine Gültigkeit verliert, steige er dann in Duisburg wieder aus. „Dann ist die Tiefschlafphase meist vorbei.“

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Am späten Abend wird der Verknüpfungstunnel für viele zum Nachtlager. Einige stammen aus Südosteuropa. Die Bundespolizei, die im Bahnhof kontrolliert, toleriere dies, sofern kein Stress gemacht werde, teilt die Duisburger Polizei mit.

Von Seiten der Bahn erklärt ein Sprecher: „Wartebereiche, Durchgänge, Treppen oder Fluchtwege, aber auch Schließfachanlagen müssen aus Sicherheitsgründen, aber auch mit Rücksicht auf alle Nutzer des Bahnhofs, freigehalten werden.“ Darüber hinaus sei auch das Sitzen und Liegen auf dem Boden, auf Treppen und in Zugängen untersagt. „Wer sich dort niederlässt und die Abläufe im Bahnhof stört oder andere belästigt, muss damit rechnen, des Bahnhofs verwiesen zu werden.“

Ordnungsamt ist für den Portsmouthplatz zuständig

Für den Portsmouthplatz ist zudem das Ordnungsamt zuständig. Die Mitarbeiter seien täglich mehrfach unterwegs, erklärt Stadtsprecher Sebastian Hiedels auf Nachfrage. „Die Mitarbeiter sprechen Personen an, die beispielsweise durch Lagern, Lärm oder mit Verunreinigungen im öffentlichen Raum auffallen.“

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Allein: Die ausgesprochenen Verwarnungsgelder könnten von dem Personenkreis selten beglichen werden, daher bleibe oft nur die Aussprache eines Platzverweises. Die meisten seien trotzdem am nächsten Tag wieder an Ort und Stelle. „Unsere Außendienstkräfte informieren zudem regelmäßig über Hilfsangebote der Stadt Duisburg oder anderer Einrichtungen. Leider werden die Angebote sehr selten angenommen.“

Suchthilfeverbund kümmert sich um Bedürftige aus Südosteuropa

Gerdi Wittkowski, auch Müddi genannt kümmert sich am Mittwoch, 22. Juli 2020 um die Obdachlosenszene vor dem Hauptbahnhof in Duisburg. Foto: Stefan Arend / FUNKE Foto Services
Gerdi Wittkowski, auch Müddi genannt kümmert sich am Mittwoch, 22. Juli 2020 um die Obdachlosenszene vor dem Hauptbahnhof in Duisburg. Foto: Stefan Arend / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Dem Suchthilfeverbund, der in der Duisburger Innenstadt mit Streetworkern unterwegs ist, wurde nun ein Projekt bewilligt, bei dem sich zwei Streetworker mit je sechs Stunden gezielt um Personen aus Südosteuropa kümmern sollen. „Oft haben die Betroffenen keinen Anspruch auf Hilfe und fallen durchs Raster. Allerdings ist das die Frage, die wir erst einmal prüfen wollen“, beschreibt Dita Gomfers, Geschäftsführerin des Suchthilfeverbunds die Aufgabe. Seit rund einem Jahr gibt es zudem eine Anlaufstelle samt Duschen und Waschmaschine an der Obermauerstraße. „Zu Corona-Zeiten mussten wir das kanalisieren, weil wir recht kleine Räume haben. Trotzdem war es vormittags möglich, zum Beispiel Wäsche abzugeben und sie später wieder zu holen.“ Dita Gomfers lobt die Arbeit von Gerdi Wittkowski ausdrücklich. Sie habe die Stellung gehalten, als viele andere Angebote geschlossen waren.

„Muddi“ freut sich, wenn ihre Arbeit anerkannt wird und sie etwas für ihre Schützlinge tun kann. Eins hat sie allerdings schnell gelernt. „Jeder hat seine Geschichte. Ich kann niemanden retten.“ Nächste Woche ist sie wieder an Ort und Stelle.