Duisburg. 155 Angestellte der Arztrufzentrale NRW wurden von jetzt auf gleich freigestellt und vor die Tür gesetzt. Wer hilft Kranken unter 116 117 nun?
Sie zählten zu den Heldinnen und Helden der Corona-Krise, jetzt fühlen sie sich „wie Verbrecher behandelt“: Die 155 Mitarbeitenden der Arztrufzentrale NRW ahnten zwar schon nichts Gutes, nachdem Sie von den Gesellschaftern ihres Arbeitgebers jüngst zu einer Online-Mitarbeiterversammlung eingeladen worden waren. Es sind die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein (KVNo) und Westfalen-Lippe (KVWL), die über die Arztrufzentrale NRW GmbH (ARZ) seit 2004 die kostenlose Hotline 116 117 des ärztlichen Notfalldienstes gemeinsam betrieben hatten. Das besagte „GoTo-Meeting“ war für Dienstag, 7. März, 11 Uhr angesetzt worden. Was die überwiegend langjährigen Angestellten im Callcenter im Duisburger Hoist-Haus dann ab 11 Uhr erlebten, habe sie überrumpelt, empört und „schockiert“. Das haben unserer Redaktion Mitarbeiterinnen berichtet.
Zwei „Liquidatoren“ hätten sich online als solche vorgestellt, aber nicht gezeigt, und dann emotionslos eine kurze Präsentation vorgetragen. Der Job dieser beiden also: die Auflösung der ARZ. Ihre wichtigste Botschaft: „Die betriebliche Tätigkeit der ARZ GmbH wird sofort eingestellt.“
Noch auf derselben Folie stand, es gebe darum nun keine Arbeit mehr für die Mitarbeiter: „Sie werden von uns widerruflich unter Fortzahlung Ihrer Vergütung freigestellt.“
Arztrufzentrale NRW (116 117): Rauswurf der Mitarbeiter, Tränen im Duisburger Callcenter
Der Betriebsrat sei um 10.30 Uhr informiert und dazu eingeladen worden, „über den Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans zu verhandeln“. Der nächste Punkt in der uns vorliegenden Präsentation: „Sie erhalten ein Angebot zur Aufhebung ihres Arbeitsvertrages.“
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Die digitale Versammlung habe gerade mal sieben Minuten gedauert, erzählen Mitarbeiterinnen, die diese im Hoist-Haus erlebten. Sie wollen anonym bleiben, da sie weiterhin von der ARZ bezahlt werden. Kurz nach dem Sprint-Meeting habe die Belegschaft bemerkt, „dass wir keinen Zugriff mehr auf die Rechner haben“. Kurzfristig, ohne Ankündigung wurde nicht nur der Zugriff auf E-Mails und IT-Systeme gesperrt: „Auf einmal haben wir gemerkt, dass auch unsere Chips für die Türen deaktiviert sind.“ Damit war ihnen der Zugang zum Büro und die Zufahrt zu den Parkplätzen versperrt.
„Unfassbar!“, schimpfte eine der Frauen, die am Mittwochnachmittag zu einer kleinen Mahnwache am Hoist-Haus gekommen waren: „Als es um die Corona-Impfungen ging, haben wir rund um die Uhr alles gerockt, und jetzt behandelt man uns wie Schwerverbrecher.“
Am Dienstag gegen 13 Uhr mussten die Mitarbeiterinnen – der Frauenanteil im Callcenter liegt bei etwa 70 Prozent – auch ihre Büroräume in der ersten Etage verlassen. Männer eines Sicherheitsdienstes hätten sie hinausgedrängt. „Niemand hatte mehr Zeit einzupacken. Einige haben ihre persönlichen Sachen in der Eile schnell in Müllsäcke gesteckt und mitgenommen“, schildert eine der Betroffenen den Rauswurf.
Es seien trotz der Schockstarre der meisten Team-Mitglieder viele Tränen geflossen. „Absolut unmenschlich“ nennt eine Teammanagerin dieses Vorgehen: „Das erwartet man vielleicht von irgendeiner Hinterhof-Firma, aber doch nicht von den Kassenärztlichen Vereinigungen.“
Kassenärztliche Vereinigungen: „Ziel ist ein verbesserter Service“
Ein Sprecher der KV Westfalen-Lippe in Dortmund verweist auf Nachfrage auf die Zuständigkeit der KV Nordrhein. Deren Sprecher schreibt, konfrontiert mit Vorwürfen und Fragen zum Vorgehen: „Bitte haben Sie Verständnis, das wir zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren öffentlichen Stellungnahmen abgeben.“ Die „wesentlichen Informationen“ seien in der Pressemitteilung zusammengefasst.
Diese hatten die Vereinigungen am Dienstag um kurz nach 11 Uhr auf ihren Internetseiten veröffentlicht. Die Überschrift: „116 117 in NRW: Vertraute Nummer, neue Organisation“. Der Betrieb der 116 117, also der zentralen Nummer des ärztlichen Notdienstes und der Terminservicestellen (TSS), werde in NRW neu organisiert: „Ziel ist ein verbesserter Service“. Es gehe darum, „die Qualität und die Erreichbarkeit der 116 117 in NRW zu verbessern“.
Darum hätten die Gesellschafter der AZR entschieden, „den Betrieb der Hotline im jeweiligen Landesteil ab sofort eigenständig durchzuführen. Der Beschluss zur Auflösung der Arztrufzentrale NRW GmbH wurde heute der ARZ übermittelt.“ Den Gesellschaftern sei dabei „eine sozialverträgliche Umsetzung der Liquidation sehr wichtig“.
Betriebsratsvorsitzender: Privater Dienstleister übernimmt nun Anrufe
Was die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht erklären: Wer beantwortet seit Dienstag, 11 Uhr, die Anrufe, die in NRW unter 116 117 eingehen? Das waren, auch schon vor Corona, etwa rund eine Million Anrufer jährlich, zuletzt immer noch Tausende an Wochenenden. Ein KVWL-Sprecher sagt nur, das neue Callcenter sei in Dortmund verortet.
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Guido Geduldig ist der Betriebsratsvorsitzende der Arztrufzentrale. Er erklärt, über der Belegschaft habe „seit etwa zwei Jahren die unausgesprochene Drohung geschwebt, dass wir nach Köln umziehen müssen“. Dort baut die KVNo ein neues Verwaltungsgebäude für mehr als 400 Mitarbeiter. „Die meisten von uns wären jeden Tag nach Köln gefahren“, meint eine Mitarbeiterin aus dem Ruhrgebiet. Daraus wird wohl nichts.
Gibt es nun in Köln ein neues Callcenter? Geduldig sagt, die Anrufe für die KVNo beantworteten nun Angestellte eines privaten externen Dienstleisters. Die KVNo-Pressestelle aber lässt auch die Fragen unbeantwortet, ob dies stimmt und ob es sich bei dem Dienstleister um eine Firma der Sitel-Gruppe handelt. Sitel hätte, so heißt es aus der Belegschaft, im Herbst 2022 den Zuschlag erhalten, den sogenannten „Überlauf“ der 116 117 abzutelefonieren.
ARZ-Mitarbeiter warnen vor Gefahren durch schlechter Qualifizierte
Die Mitarbeiterinnen, die aus Angst vor Nachteilen nicht namentlich genannt werden möchten, erklären, die schlechter bezahlten Sitel-Telefonistinnen und -Telefonisten seien auch schlechter qualifiziert – was im Extremfall gar zu einer gesundheitlichen Gefährdung der unter 116 117 anrufenden Patienten führen könne. Betriebsratschef Geduldig sagt dazu: „Diese Befürchtungen gibt es.“
Er verweist darauf, dass Einstellungsvoraussetzung bei der Arztrufzentrale eine medizinische Ausbildung gewesen sei: „Bei uns haben Krankenschwestern, Rettungssanitäter, Feuerwehrleute und medizinische Fachangestellte gearbeitet.“ Diese hätten zum Beispiel besser abschätzen können, ob ein Anrufer mit Beschwerden doch ein Notfall ist – ein Fall für die 112 also.
Viele von ihnen plagen nun Existenzängste und Zukunftssorgen. Und unmittelbar stellt sich ihnen die Frage, ob sie in den nächsten Wochen ohne die beträchtlichen steuerfreien Zuschläge für Nacht- und Wochenenddienste über die Runden kommen müssen – und ob diese bei den Abfindungsangeboten berücksichtigt werden.
Das habe die Arbeitgeberseite nicht erklärt. Was diese verspricht: „Vor Abschluss der Verhandlungen mit dem Betriebsrat unter Wahrung sämtlicher betriebsverfassungsrechtlicher Vorgaben werden keine Kündigungen ausgesprochen.“ Danach würden die „Arbeitsverhältnisse unter Beachtung einer ordentlichen Kündigungsfrist“ beendet. So stand es in der Sieben-Minuten-Präsentation der Liquidatoren.
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- Zunächst war das Callcenter der Arztrufzentrale NRW an der Beekstraße in der Altstadt ansässig, 2014 erfolgte der Umzug in die erste Etage des Hoist-Hochhausesgegenüber vom Hauptbahnhof.
- Seit 2011 hatte die ARZ auch die Anrufe aus dem Bereich der KV Westfalen-Lippe bearbeitet.
- Unter der kostenlosen Hotline sollen Patientinnen und Patienten mit Beschwerden am Abend, an Wochenenden und Feiertagen anrufen, wenn sie nicht bis zur nächsten Sprechzeit ihrer Praxis warten können. Dann sollen Haus- und Fachärzte in Bereitschaftspraxen unter 116 117 helfen.
- Auch die Terminservicestellen (TSS) der beiden Kassenärztlichen Vereinigungen sind weiterhin unter der bundeseinheitlichen Nummer zu erreichen. Die TSS unterstützt gesetzlich Krankenversicherte bei der Vermittlung von Arzt- oder Psychotherapeuten-Terminen.