Duisburg. Die Kassenärztliche Vereinigung äußert sich zur Massen-Freistellung im 116117-Callcenter. Über Defizite und Erfolge, Foundever und Gehälter.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein (KVNo) und Westfalen-Lippe (KVWL) stehen nach der Schließung ihrer Arztrufzentrale NRW in der Kritik: wegen des Umgangs mit den Beschäftigten im Callcenter, die von jetzt auf gleich freigestellt und ausgesperrt wurden. Aber auch wegen der Auslagerung an einen externen Dienstleister, der für die Notdienst-Hotline 116 117 auch Mitarbeitende ohne medizinische Ausbildung einsetzt (wir berichteten). Nun hat die KVNo über ihren Sprecher Sven Ludwig einige Fragen unserer Redaktion beantwortet – und eine weitere Erklärung für die geplante Liquidation der Arztrufzentrale NRW GmbH (ARZ) gegeben.
Während der Freistellung der laut ARZ-Betriebsrat 155 Beschäftigten im Hoist-Haus hatten die Vereinigungen in einer Pressemitteilung erklärt, es gehe darum, „Qualität und Erreichbarkeit der 116 117 in NRW insgesamt zu verbessern“. Darum hätten die Gesellschafter entschieden, „den Betrieb der Hotline im jeweiligen Landesteil ab sofort eigenständig durchzuführen“.
Kassenärztliche Vereinigung: „Tief in der ARZ GmbH verwurzelte strukturelle, organisatorische und planerische Defizite“
Fragen zur Umstrukturierung stellt die SPD Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) auch im Landtag (wir berichteten). Die KVNo geht nun näher darauf ein: Die Kassenärztlichen Vereinigungen hätten „Ende 2021 eine Analyse zur Produktivität, Dienstleistungsqualität und Zukunftssicherheit initiiert“, erläutert ihr Sprecher Ludwig. „Dabei haben beide KVen erhebliche Optimierungsbedarfe für die Erreichbarkeit der Hotline gesehen.“ Es gehe bei der Neuorganisation darum, den gesetzlichen Auftrag zum Betrieb der 116 117 besser sicherzustellen.
Mit der Arztrufzentrale wäre dies nach Ansicht der KVen nicht möglich gewesen: Ursache für „sehr lange Wartezeiten bis hin zur zeitweisen Nicht-Erreichbarkeit“ seien „tief in der ARZ GmbH verwurzelte strukturelle, organisatorische und planerische Defizite“.
Insbesondere die langen Wartezeiten und die Nicht-Erreichbarkeit hätten „regelmäßig zu Rückfragen bzw. Beanstandungen mit Blick auf die Sicherstellung eines gewissen Qualitätsniveaus für die Patientinnen und Patienten“ geführt.
KVNo: Deutliche Verbesserung seit Umstellung
Die Erreichbarkeitsprobleme bestreiten Befragte aus der Belegschaft nicht. Sie erinnern sich auch an Besuche von Unternehmensberatern. Die Angestellten erklären die schlechte Erreichbarkeit jedoch in erster Linie mit externen Faktoren:
2020 gab es bereits über eine Million Anrufe, 122.000 nur zum Thema Corona. Völlig überrollt wurde das Callcenter 2021, weil das NRW-Gesundheitsministeriums die Corona-Impfterminvergabe für Senioren über die 116 117 abwickelte: Am ersten Tag der Terminvergabe habe es 500.000 Anrufe gegeben – allein bis zum Nachmittag, berichtete damals der Leiter des Callcenters, Dr. Michael Klein. Obendrein seien in der Pandemie 2020 neue Aufgaben hinzugekommen, etwa die Vermittlung von Facharzt-Terminen (Terminservicestelle, TSS).
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Nichtsdestotrotz seien Stellen nicht nachbesetzt worden: Im April 2020 hätten im Callcenter noch 214 Angestellte gearbeitet, zuletzt 155, sagte jüngst der Betriebsratsvorsitzende Guido Geduldig.
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Die KVNo wolle nun die Erreichbarkeit verbessern, „indem die Organisationsabläufe verbessert und qualifizierte Mitarbeitende entsprechend des Anrufaufkommens stets bedarfsgerecht eingesetzt werden“, so Sprecher Ludwig. Er berichtet sogar erste Erfolge:
Seit die KV Westfalen-Lippe und die KV Nordrhein den Betrieb der 116 117 „auf unterschiedliche Weise und mit anderen Prozessen neu organisiert haben, konnte ad hoc eine signifikant höhere und im Ergebnis zielkonforme Erreichbarkeit für Patientinnen und Patienten festgestellt werden“. Diese Erfolgsmeldung bezieht sich also auf die Zeit seit dem 7. März.
Foundever: Callcenter-Riese zahlt deutlich schlechter
Ludwig bestätigt, dass die Firma Sitel für die KVNo arbeitet. Sie war bereits in der Corona-Krise beauftragt worden und laut Belegschaft erneut im Herbst 2022, für den „Überlauf“ an Anrufen. „Sitel erbringt derzeit für die KVNO Telefonie-Dienstleistungen für Patientinnen und Patienten im Bereich des Terminservice – einer neben der Notdiensttelefonie ergänzenden 116 117-Aufgabe – sowie für Mitglieder der KVNO“, so Ludwig.
Die Sitel-Gruppe, einer der Weltmarktführer im „Customer-Relation-Management“-Geschäft, heißt seit dem 1. März Foundever. Das Unternehmen kümmert sich auf verschiedenen Kanälen um Kontakte zwischen Firmen und deren Endkunden. Der Callcenter-Riese Foundever hat nach eigenen Angaben 170.000 Mitarbeiter in 45 Ländern.
Auf dem Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu haben 1213 Foundever-Mitarbeiter Gehaltsangaben gemacht: Demnach verdient ein „Call Center Agent“ bei Foundever im Schnitt 22.300 Euro brutto jährlich, also nicht mal 1900 Euro monatlich. Das ARZ-Team dagegen wurde laut Mitarbeitenden nach einem an den öffentlichen Dienst angelehnten Haustarifvertrag entlohnt, Einstiegsgehälter lagen demnach über 2500 Euro.
KV bestreitet Risiken durch Callcenter
Aus der freigestellten Belegschaft kommt der Vorwurf, die von Sitel/Foundever beschäftigten Telefonistinnen und Telefonisten seien nicht qualifiziert, was zu einer Gefährdung der 116 117 wählenden Patienten führen könne. So habe jede(r) im ARZ-Center „täglich mehrfach“ Anrufe schwerkranker Notfälle an den Rettungsdienst (112) weiterleiten müssen, erklärt eine Mitarbeiterin: „Eine Einschätzung, wie ernst die Lage des Anrufers ist, ist ohne medizinische Ausbildung wirklich schwierig.“ In der ARZ arbeiteten darum Sanitäter, Kranken- und Altenpfleger, medizinisch-technische Assistenten.
KVNo-Sprecher Ludwig dagegen sagt, die Mitarbeitenden im ausgelagerten Callcenter seien für den Job ausreichend qualifiziert: „Die Sitel-Mitarbeitenden erhalten die hierfür maßgeblichen Initialschulungen und Weiterbildungen, um ein hohes Qualifikationsniveau sicherzustellen.“ Sie telefonierten von den „Standorten des Dienstleisters“ aus, zum Beispiel in Krefeld.
„Eine (fach-)ärztliche medizinische Beratung erfolgt durch die Leitstellen der 116 117 nicht“, betont Ludwig. Patienten erhielten stattdessen „nach einer medizinischen Ersteinschätzung Empfehlungen für die der Dringlichkeit angemessenen Versorgungsebene“, etwa den Hinweis auf die nächstgelegene Notfallpraxis. „Im Bedarfsfall“ werde „das Anliegen an einen Arzt oder eine Ärztin im Bereitschaftsdienst weitergeleitet und ggf. ein ärztlicher Hausbesuch veranlasst.“
>> KEINE ANTWORTEN / STATEMENT DER LIQUIDATOREN
- Unsere Fragen zum viel kritisierten Ablauf der Blitz-Freistellungen hat die KVNo nicht beantwortet.
- Diese Fragen ebenfalls nicht: Hat die ARZ-Auflösung den Zweck, Kosten für den Betrieb der 116 1117 zu senken? Warum werden den Mitarbeitern keine neuen Arbeitsplätze angeboten?
- Nach Angaben der Liquidatoren Steffen Römheld und Nina Hammes seien „rund 140“ statt 155 ARZ-Mitarbeitende (Betriebsratsangaben) von der Freistellung betroffen. Sie sind wie berichtet widerruflich freigestellt und haben Abfindungsangebote erhalten.
- „Im nächsten Schritt möchten wir nun in Verhandlungen mit dem Betriebsrat eintreten, um insbesondere zur Abmilderung der wirtschaftlichen Nachteile der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Sozialplan abzuschließen“, erklären Römheld und Hammes.