Duisburg. Marxloh ist ihre Heimat. Seit fast 50 Jahren lebt Rikarda Licht im Stadtteil mit dem bundesweit wohl schlechtesten Image. Warum es da schön ist.
Müllecken, Polizei-Razzien, Familien-Clans – lauter Schlagworte, die bundesweit mit Marxloh in Verbindung gebracht werden. Kreative Geschäftsleute, hübsch restaurierte Fassaden und bunte Lebendigkeit – das ist Marxloh für Rikarda Licht. Die inzwischen 76-Jährige lebt seit fast 50 Jahren in dem Duisburger Stadtteil, ging hier schon zur Schule. Und wird nicht müde, ihn zu verteidigen. Dafür bekommt sie in sozialen Netzwerken auch mal blöde Sprüche.
Vor drei Jahren waren wir schon mal mit ihr durch Marxloh gelaufen, um mit ihren Augen zu sehen, was in dem Stadtteil steckt. Drei Jahre und ungezählte Polizeimitteilungen später wollen wir wissen: Hat sich an ihrer Haltung etwas geändert?
Marxloh: „Am Wochenende ist halb Europa hier!“
„Überhaupt nicht“, sagt Licht und läuft sofort los, um positive Veränderungen zu zeigen: Die vornehmlich türkischen Geschäftsleute auf der Weseler Straße haben sich die Kritik, dass man sich gegenüber deutschen Kunden zu sehr abschotte, zu Herzen genommen.
„Gelinlik“ließe sich anhand der Schaufensterauslage leicht erschließen: Brautmode. Aber es ist die Geste, die zählt: „Hemd, Schuhe, Manschettenknöpfe“ flimmert auf einem digitalen Laufband über einem Geschäft. „Sie werben jetzt auf Deutsch!“, freut sich Rikarda Licht und zeigt viele weitere Beispiele.
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Die Rentnerin wohnt nur wenige Schritte vom Pollmann-Eck entfernt, für manche ist das das Auge des Vulkans, die No-go-Area schlechthin. Die Rentnerin amüsiert diese Sichtweise. Kürzlich postete sie auf Facebook eine Ansicht aus dem Jahr 1955 und siehe, auch da schon war die Weseler Straße eine lebendige und geschäftige Meile. Der Unterschied: „Am Wochenende ist inzwischen halb Europa hier!“ Und so, wie sie es sagt, ist es positiv, bereichernd – und wirkt irgendwie auch stolz.
Ehrenamt: Deutschunterricht im Petershof geben
Beim Spaziergang durch Marxloh wird die ehemalige Lehrerin des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums von früheren Schülern wiedererkannt. Gegrüßt wird sie auch von einer Gruppe junger Frauen, mit und ohne Kopftuch, die bei ihr Deutsch lernen. Im Petershof bei Pater Oliver ist Licht regelmäßig ehrenamtlich aktiv.
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Ein ehemaliger Schüler, heute Betreiber eines Geschäftes, habe ihr neulich erzählt, dass die Immobilienpreise an der Weseler Straße inzwischen Düsseldorfer Niveau hätten, so begehrt sei die Lage.
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In den Seitenstraßen sieht es freilich anders aus und die Ecke, in der rumänische Großfamilien zuhauf wohnen, will auch Licht nicht schönscheinen. Aber es trübt nicht ihr Gesamtbild, denn den Kontrapunkt setzt der Jubiläumshain mit seinen hübschen Villen. „Das ist auch Marxloh!“ Oder die syrische Familie in der Nachbarschaft, die die Balkonkästen nach deutschem Vorbild bepflanzte und nach einem freundlichen Hinweis sonntags keine Waschmaschine mehr anwirft. Eine Horde Kinder rennt johlend vorbei, kurz darauf kracht es. Sie haben ihren Spaß mit letzten Silvester-Böllern.
Warum es immer Müllecken in Marxloh geben wird
Und dann kommt doch wieder die unvermeidliche Müllecke. Ich weise sie darauf hin, aber Rikarda Licht schüttelt nur amüsiert den Kopf: „Das war ein Nachbar, der testet damit die Wirtschaftsbetriebe.“ Warum auch immer.
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Entlang unseres Weges passieren wir zahlreiche korrekt gebündelte Altpapier-Haufen für den nächsten Tag. Zwei Straßen weiter finden wir dann doch noch eine den Vorstellungen entsprechende Müllansammlung nebst einem dicken, weißen Klischee-Mercedes. Licht sagt: „Wenn man das meldet, kümmern sich die Wirtschaftsbetriebe sofort. Das klappt gut!“
Und ergänzt, dass es in manchen Ecken immer wilde Müllkippen geben werde: Die Fluktuation sei so groß, dass Neubürger, kaum dass sie das Prinzip verstanden hätten, schon wieder weg seien und neuen Bewohnern Platz machen würden, die ebenfalls erst mal falsch mit ihrem Müll umgehen würden. Immerhin gebe es „Kümmerer“, die um Aufklärung bemüht seien.
Köstlich kandierte Früchte und Nüsse
Rikarda Licht führt uns zu einem neuen Laden in ihrer Nachbarschaft, „der wird mein Tod sein“, sagt sie lachend. Es riecht köstlich nach gebrannten Mandeln, in den Vitrinen warten Pralinen, türkische Süßigkeiten und umhüllte Nüsse auf Kunden. Spezialität sind kandierte Früchte – sogar Melonenscheiben sind dabei. Sie sehen eher wie Pizzastücke aus mit ihrem weißlichem Rand und der roten Spitze.
Andere Schaufenster sind verhängt. Das des Brillengeschäfts etwa. „Der Besitzer hat zugemacht, weil er keine Mitarbeiter fand. Niemand wollte in Marxloh arbeiten!“, sagt sie fassungslos. Vom Wohnen ganz zu schweigen.
Der Wochenmarkt auf dem August-Bebel-Platz ist auch ein Ärgernis für sie: „Da gibt es keinen einzigen Kopf Salat, nur Klamotten!“ Zum Glück gibt es den türkischen Supermarkt, in dem es tagtäglich brummt. Davor werfen zwei Mädchen ihre Trinkpäckchen auf den Boden, trampeln sie platt. Noch bevor sie weiterziehen, hat Rikarda Licht sie am Schlafittchen. Peinlich berührt heben die beiden ihren Müll auf und werfen ihn in den zwei Meter entfernten Mülleimer.
Renovierte Häuser mit Stuck an den Wohnzimmerdecken
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Weiter geht es, vorbei an der noch weihnachtlich geschmückten Marktpassage. Rund um die Kreuzeskirche sind viele Häuser picco bello renoviert, in manche Wohnzimmer kann man reinschauen und beneidenswerte Stuckdecken sehen. „Das ist doch ein Geschenk, hier zu wohnen“, sagt Rikarda Licht und meint es genau so. Dass ihr ein Halbstarker mit seinem aufheulenden Motor ins Wort fällt, entlockt ihr kaum mehr als ein Augenrollen. Leben und leben lassen.
Haben Sie nie Angst, Frau Licht? „Ich geh bei Tag und Nacht durch alle Straßen hier. Da ist wenigstens was los. In der Innenstadt ist ja nach acht Uhr tote Hose.“ Praktisch auch: „Verkehrstechnisch sind wir gut angebunden“, auch wenn über die Straßenbahngleise gerade nur der Schienenersatzverkehr in Gestalt eines Busses fährt.
Was muss also passieren, damit der Ruf Marxlohs besser wird? „Das muss über Generationen rauswachsen, das ist ja auch nicht über Nacht gekommen.“ Was sicher hilft: „Der persönliche Kontakt. Was man kennt, macht nicht sofort Angst“, ist sie überzeugt. Und gesteht dann, dass sie bei den letzten Nachrichten über brennende Autos in Walsum eine leichte Schadenfreude überkam. Da seien schließlich einige hingezogen aus Marxloh. Um dann festzustellen: Idioten gibt es überall.