Duisburg. Pater Oliver öffnet seine Kirche in Duisburg-Marxloh für Obdachlose, die nirgendwo anders hinpassen. Hilfe, findet er, ist nicht verhandelbar.
Ein Boot in schwerer See glimmt über dem Eingang der Kirche St. Peter zu Marxloh. Unter diesem gewaltigen Fenster das geöffnete Portal, hell und klein, im Vorraum regen sich Menschen auf Feldbetten, noch im Sitzen geduckt. Es hat sieben Grad an diesem Abend kurz vor Weihnachten, draußen wie drinnen. Obdachlose finden provisorische Zuflucht hier im Durchgang, hinter dem sich das Kirchenschiff auftut– es scheint den Vorraum wie ein Rettungsboot mitzuschleppen.
Wie ist Rozwita, die trotz Wollmütze und Winterjacke die Schultern anzieht, in diese Situation geraten? „Mein Vater ist gestorben, als ich im Krankenhaus lag im künstlichen Koma. Als ich vor der Wohnung stand, war sie schon weg.“ Ihr Nebenmann, vollkommen unter Decken begraben, unterbricht sein Schnarchen für einen langen Furz. Rozwita zuckt nicht; seit 1991 lebt die Polin in Duisburg, seit drei Jahren auf der Straße. Zwei Kinder hat sie zwar, aber nein, es gebe keinen Kontakt. Natürlich könnte sie auch einen warmen städtischen Notschlafplätze in Anspruch nehmen statt dieses ungeheizte Feldlager. Keiner sei in den vergangenen Jahren abgelehnt worden, erklärt Stadtsprecherin Susanne Stölting. „Es müsste also niemand auf der Straße schlafen. Allerdings wollen auch nicht alle Obdachlosen Hilfe annehmen.“
Das ist die Theorie. Pater Oliver Potschien ist Praktiker. „Also, ich habe sie nicht auf der Straße eingesammelt“, sagt der 49-Jährige. Voriges Jahr hat es angefangen, dass Menschen im Petershof um Obdach baten. Da hat Pater Oliver das erste Mal die Kirche geöffnet, der er seit 2012 vorsteht. Hat die Handwerker der Gemeinde aktiviert, im Keller der zugehörigen Hilfseinrichtung eine Dusche zu bauen. Der Duschkopf besteht aus der zu einem Ring gebogenen Kupferleitung, mit Löchern darin. „Wird sonst geklaut.“
Es gibt keine Bedingungen für Hilfe
Im Petershof fragen sie nicht nach dem vollen Namen, wollen keinen Bogen ausgefüllt haben, öffnen auch Stockbetrunkenen die Tür, selbst wenn sie bisweilen Kerzen auf dem Teppich anzünden und im Kreis Wodka trinken. Ein Ehrenamtlicher schläft oben im Gemeindehaus bei geöffnetem Fenster. Der geringe Bewegungsradius sei ein weiterer Grund für die Straße, erklärt Pater Oliver, die städtische Unterkunft für Frauen ist in Neudorf, die für Männer in Kasslerfeld, bliebe noch die offen gehaltene U-Bahnstation am Hauptbahnhof. „Aber Geld für Fahrkarten haben sie nicht. Und Oleg hat wahrscheinlich den Fuß gebrochen.“
Nicht jeder kennt seine eigenen Gründe. Warum Rozwita hier ist? „Keine Ahnung. Die Betreuung hat gesagt, ich soll mich hier melden.“ Natürlich hat Rozwita Anspruch auf Hartz IV und somit auf eine Wohnung, „aber meine Betreuerin hat gesagt, ich soll mir selber eine suchen.“ Ihren Bettnachbarn Matjew wollte Rozwita auch nicht allein lassen. Sie hat ihn in „der Garage“ kennengelernt. Seine Nase ist nach einem Bruch krumm zusammengewachsen. Rozwita wirkt wie Matjews Mutter, wie alt sie sein mag? – Sie ist erst 43.
Neben dem Dutzend Betten stehen ein großer Müllsackhalter, zwei Teller mit Paprikastreifen, auf einem Banner steht: „Nächstenliebe ist nicht verhandelbar.“ Das ist der Weg aller Gemeindemitglieder zur Messe, durch das Spalier der Feldbetten. Eine Dame aus dem Essener Süden verschlug es neulich her, die fragte, ob das eine Kunstinstallation sei. „Keiner in der Gemeinde war begeistert“, sagt Pater Oliver. „Aber die Armut begeistert uns noch weniger.“
Container stehen bis Heiligabend
Aus der ganzen Stadt kommen sie nach Marxloh, auch die benachbarte Moschee bringt Suppe und Kleidung, fünf Krankenpfleger helfen am Petershof. Die Stadt hat schon letztes Jahr die Feldbetten und die blauen Decken gestellt. Und bis Heiligabend setzt sie neben die Kirche Schlafcontainer für 25.000 Euro. Das ist gut und doch nur ein weiteres Provisorium. „Wo ist das Konzept?“, fragt Pater Oliver. „Ich sehe mich nächstes Jahr wieder hier stehen. Und die Hälfte ist dann tot. Drei Jahre überleben sie im Schnitt auf der Straße.“
Seine Aktionen sind nicht unumstritten. 2015 richtete Pater Oliver im Petershof eine Gesundheitsstation ein für Zuwanderer ohne Krankenversicherung. Er warnte damals vor Masern, sollte die Stadt sie nicht impfen. Duisburg reagierte spät, es gab eine Masern-Welle. Dem Pater wurde damals schon vorgeworfen, er würde Doppelstrukturen aufbauen, er würde „Pull-Faktoren“ schaffen für arme Zuwanderer. „Natürlich spricht es sich rum“, weiß der Pater. „Aber die Leute haben einfach nichts besseres.“ Ein Obdachloser sei sogar mit einem Adresszettel aufgetaucht, den ihm ein städtischer Streetworker geschrieben habe.
Józef lugt unter seiner „Schwebeleicht“-Gesundheitsdecke hervor. „Er sah aus wie Catweazle, wir haben ihn zum Frisör geschickt.“ 1988 ist der 61-jährige Pole nach Deutschland gekommen. „Bisschen habe ich getrunken“, sagt Józef. Erst war die Frau weg, vor zwei Jahren auch die Wohnung. Ein schlaffer Tagesrucksack am Rollator und die Kleider am Leib sind sein einziger Besitz. Die Jacke ist nicht gefüttert. „Ist schon okay“ – er lächelt sanft.
„Pater Oliver ist ja selber keine Heizung“
„Man kann hier ja Kleider bekommen“, mischt sich Bernd ein, der mit einer Packung „Tuc“ daneben sitzt. Der 43-jährige Elektriker ist erst seit drei Wochen obdachlos, alles neu für ihn. „Ich wusste gar nicht, dass es so viel Hilfe gibt. Wenn man selber arbeitet, sieht man es nicht. Ich bin ja auch zweimal im Jahr in den Urlaub gefahren. Aber man wird hier echt warmherzig betreut. Und wenn ich morgens um einen Kaffee bitte, bekomme ich einen Kaffee. Das ist ein heiliges Haus. Ich finde es mega.“
„Wir müssen nur gucken, dass wir es schnell beenden“, sagt Pater Oliver. Bernd hat sich schon einen neuen Ausweis machen lassen. Frau R. von der Jugendberufshilfe hat ihm fünf Euro für ein Passfoto gegeben. „Eines weiß ich, wenn ich mein Leben wieder im Griff habe, werde ich hier helfen. Es ist kalt hier, ja, aber ich habe ein Dach über dem Kopf. Pater Oliver ist ja selber keine Heizung.“
Und wie ist Bernd eigentlich auf der Straße gelandet? – Eine Frau, die Antifa, Kameras in der Wohnung, totale Überwachung, Flucht …
Während wir reden, dreht Pater Oliver die letzte Runde um die tragenden Säulen seiner Kirche, groß wie Bäume, löscht das Licht im steinernen Wald. Nur das Jesusrelief in der Apsis glüht noch. Die Silhouette des Paters verneigt sich unter dem geschnitzten Herrn. Als er die Kirche schließt, scherzt er: „Ach, unsere kleine Arche.“
Morgen will er helfen, eine Wohnung für Bernd zu finden.
>> Info: In der Theorie muss keiner auf der Straße schlafen
Etwa 41.000 Menschen lebten in Deutschland auf der Straße im Laufe des Jahres 2018. Mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Allerdings lag ihre Zahl zwischenzeitlich noch deutlich höher (52.000 in 2016). Jeder zweite Betroffene in Großstädten stammte zuletzt aus dem EU-Ausland, oft aus Polen. Schon in den Jahren vor der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit 2014 für Bulgarien und Rumänien stieg die „Straßenobdachlosigkeit“ kontinuierlich und stark an.
In Duisburg spiegelt sich diese Entwicklung laut Stadt: Von 2011 bis 2016 stieg die Zahl der untergebrachten Personen auf ihren Höchststand von 623, danach ging sie zurück auf zuletzt 359 (2018). Darin enthalten sind auch Wohnungslose, die längerfristig in Wohnheimen untergebracht sind. Für die kurzfristige Unterbringung hält Duisburg 43 Schlafplätze vor (Aufstockung um 41 möglich). Niemand der nachgefragt habe, sie ohne Schlafplatz geblieben heißt es.
Einer recht aktuellen Studie aus Hamburg zufolge liegt die Lebenserwartung von Obdachlosen bei 49 Jahren, die meisten sterben durch Alkohol- und Drogenvergiftung. Unterkühlung war nur in Einzelfällen eine direkte Todesursache, allerdings starb jeder Dritte im Winter. Vor 15 Jahren kam nur jeder zehnte Wohnungslose aus dem Ausland, heute sind es etwa 40 Prozent, wobei die Hälfte aus Polen stammt.