Ruhrgebiet. Als junge Mädchen wurden sie in „Erholungskuren“ geschickt – und kehrten traumatisiert zurück. Drei „Verschickungskinder“ aus NRW berichten.

Sechs Wochen am Meer – ohne Eltern, ohne Schule. Was nach Ferien und Abenteuer klingen könnte, wurde für tausende „Verschickungskinder“ zur traumatischen Erfahrung. Von 1949 bis 1990 wurden rund 1,8 Millionen Kinder aus NRW in Kurheime an die Nord- und Ostsee oder in die Berge geschickt. Sie sollten sich dort erholen oder gar „aufgepäppelt“ werden, aber die Realität sah oft anders aus. Drei ehemalige „Verschickungskinder“ erzählen, was sie in den Kuren erleben mussten:

Regina Konstantinidis (58) wurde im Alter von sechs Jahren nach Borkum verschickt. Jahrzehnte später fasst die Essenerin ihre, wie sie selbst sagt, traumatischen Erlebnisse im Kurheim „Haus Ruhreck“ in Worte. „Verschickt – Verdrängt – Vergessen“ heißt ihr Buch, das 2021 erschien. Als Heimortkoordinatorin leitet Regina Konstantinidis eine Gruppe für Borkumer „Verschickungskinder“ und ist Vorstandsmitglied im Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW.

„Uns wurde gesagt: Ihr fahrt in Erholung, weil zu blass und zu dünn – was ja im Winter auf jeden zweiten im Kohlenpott zutraf. Und weg waren wir. Im Heim war alles kahl und kalt. Ich hatte einen Teddy, Molli, der wurde mir abgenommen. Wir durften keine persönlichen Sachen haben. Unsere Betreuerinnen mussten wir ‘Tanten’ nennen. Für mich waren sie irgendwann Hexen.

Man durfte nicht einfach auf Toilette gehen, wann man wollte, nachts schon gar nicht. Es gab gemeinsame Toilettengänge. Einmal stand ich zu weit hinten in der Schlange und habe es nicht mehr rechtzeitig geschafft. Da wurde man vorgeführt, musste die nassen Sachen anbehalten und den ganzen Tag darin herumlaufen, damit jeder den Fleck sieht. Bei der Kälte hat es ewig gedauert, bis das getrocknet ist. Wenn man nach so etwas zurück in die Gruppe kam, fühlte man sich doppelt fremd. Es gab ein Klima der Angst, auch untereinander. Man hat sich nicht verbündet.

Alles war verboten. Wir mussten still sein. Im Grunde: bloß nicht auffallen. Ich bin gewaltfrei erzogen worden. Eine meiner ersten Erfahrungen mit körperlicher Gewalt machte ich im Heim. Wir Mädchen wurden zur Strafe geschlagen und an den Haaren aus dem Bett gezogen. Sechs Wochen mit so viel Angst sind eine verdammt lange Zeit. Von Heimweh zu sprechen, finde ich persönlich zu kurz gefasst. Ich hatte sicherlich auch Heimweh, aber ich wollte da weg, weil es so grausam war.

„Es geht uns darum, anderen Betroffenen zu helfen und dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten“, betont Regina Konstantinidis, die sich unter anderem rege im Verein „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW“ engagiert.
„Es geht uns darum, anderen Betroffenen zu helfen und dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten“, betont Regina Konstantinidis, die sich unter anderem rege im Verein „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW“ engagiert. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die schlimmste Erinnerung ist das Schlammbad. Wir kamen in einen gekachelten Raum mit einer großen Badewanne und ich musste in dem kalt gewordenen Schlamm sitzen. Ich empfand das als Strafe, es wurde einem ja auch nicht erklärt, wofür das gut sein sollte. Irgendwann konnte ich nicht mehr, habe gebibbert vor Kälte und dachte: Ich muss hier raus, jetzt ziehe ich mich an. Dabei wurde ich erwischt. Ich wurde ins Gesicht geschlagen, durch den Raum gezerrt und das letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie mein Gesicht sich dem Schlamm näherte.

Als ich 2019 den Bericht von „Report Mainz“ über Kinderverschickungen gesehen habe, habe ich drei Tage lang nur geweint. Lange Jahre hatte man gedacht, man ist die einzige, die so gelitten hat. So geht es vielen von uns. Zuhause wurde mir nicht geglaubt, nach dem Motto: ‘Das Kind hat zu viel Phantasie’. Und irgendwann habe ich es verdrängt – was nur natürlich ist für eine Kinderseele.

Vor der Kur habe ich meine Mutter immer Löcher in den Bauch gefragt, danach wurde ich sehr still. Heute noch fällt es mir schwer, Vertrauen zu fassen. Das hat auch meine Beziehungen geprägt. Auch dieses ‘sich allein auf der Welt fühlen’, habe ich bis heute. Ich habe auch ein paar Marotten entwickelt, die mir erst viel später bewusst wurden: Ich muss immer aus sämtlichen Kleidungsstücken hinten die Schilder rausschneiden. Das ist zwanghaft und hat damit zu tun, dass, wenn man verschickt wurde, alle Klamotten mit Namensschildern versehen werden mussten.

Das Buch zu schreiben, hatte eine sehr therapeutische Wirkung. Und der Austausch mit anderen Betroffenen, die meine Erfahrungen bestätigen. Wenn man irgendwas von Kinderverschickung erzählt, nehmen einen auch heute noch viele nicht so richtig ernst. Dieses Anzweifeln, der Ausdruck ‘Kann nicht sein!’, ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es muss sich da dringend was ändern.“

An die Nordsee fährt Barbara Seppi (59) heute nicht mehr. Im April 1972 verbrachte sie sechs Wochen im Heim „Haus Schwalbennest“ auf Juist. Ihre Kurerfahrung habe sie bis in ihr Erwachsenenleben geprägt, sagt auch sie. Die gebürtige Dorstenerin leitet die Selbsthilfegruppe „Ruhrpott“, die Betroffenen eine Möglichkeit bieten soll, sich untereinander auszutauschen.

„Meine Mutter hatte starke psychische Probleme, kam selbst in Kur und da hat man mich auch verschickt. Sie nach Bad Meinberg, mich nach Juist. Ich kann mich erinnern, wie allein ich mich dort gefühlt habe. Ich bin Scheidungskind, hatte gerade die Trennung meiner Eltern hinter mir. Die Verschickung hat diese Entwurzelung noch verstärkt.

Ich war immer eine kleine Rebellin, bin sehr frei aufgewachsen. Deswegen war das, was ich in der Kur erfahren habe, vollkommen neu für mich. Dieser absolute Befehlston, die Strenge – das hat mir Angst gemacht. Ich habe erlebt, was viele Verschickungskinder berichten: Ich musste das eigene Erbrochene aufessen. Bei mir war es Milchreis, den kann ich bis heute nicht mehr essen.

Früher sei die Kur für sie eine lustige Anekdote gewesen, erzählt Barbara Seppi. Doch irgendwann sei ihr klar geworden, wie nachhaltig die Kinderverschickung sie geprägt habe.
Früher sei die Kur für sie eine lustige Anekdote gewesen, erzählt Barbara Seppi. Doch irgendwann sei ihr klar geworden, wie nachhaltig die Kinderverschickung sie geprägt habe. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Woran ich mich besonders erinnere, ist die Wäsche. Meine Mutter musste zig Schlüpfer und Unterhemden mit meinen Initialen versehen. Aber im Heim haben sie pro Woche nur eine Hose und ein Hemd herausgegeben. So haben wir ab dem zweiten oder dritten Tag dreckige Unterwäsche getragen. Da kriegt man schon mal Ausschlag zwischen den Beinen. Gebadet wurde nur am Wochenende. Bei der Rückkehr habe ich erzählt, wie schlimm es war, aber keiner hat mir zugehört.

Ich bin hinterher ein sehr politischer Mensch geworden, setze mich gegen Rassismus und für Akzeptanz und Frieden ein. Da ist auch eine gewisse Ruhelosigkeit, ein Freiheitsstreben in mir. Eine Horrorvorstellung ist für mich Gefängnis, ich kann nicht mal Filme darüber anschauen, ohne Beklemmungen zu bekommen. Bis heute kann ich es auch nicht leiden, wenn jemand mir gegenüber laut wird. Ich habe ein gestörtes Konfliktverhalten, starke Bindungsängste.

Diese Probleme laste ich nicht nur der Verschickung an, aber sie ist ein großer Baustein. Das habe ich lange nicht so wahrgenommen, bis ich 2020 etwas über Kinderverschickungen hörte. Da wurde mir bewusst, dass ich meine Verschickung immer als lustige Anekdote abgetan habe. Deshalb finde ich es wichtig, mit anderen Betroffenen darüber zu sprechen. Ich habe gemerkt, viele brauchen einfach ein offenes Ohr.“

Beate Schlömer aus Duisburg war neun Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer besten Freundin in die Kur nach Niendorf an die Ostsee geschickt wurde. An herbe Strafen, Essenszwang oder Gewalt erinnert sich die heute 64-Jährige nicht. Wohl aber an eine Sache, von der viele Verschickungskinder berichten: ein Gefühl der Verlassenheit.

„Ich kann mich erinnern, wie ich am Strand stand und gedacht habe: Hier kommst du nie wieder weg. Das war eine sehr schwere Erfahrung, ich fühlte mich ohnmächtig. Diese offensichtliche Missachtung meiner Sehnsucht nach Hause – darum hat sich auch keiner so recht gekümmert oder mich getröstet. Die Verlassenheit war sehr deutlich, obwohl ich ja noch meine Freundin dabeihatte. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn ich alleine dorthin gemusst hätte.

Laut dem Verein „Aufarbeitung Verschickungskinder NRW“ schlugen auffällig viele ehemalige „Verschickungskinder“ eine pädagogische Laufbahn ein. So auch Beate Schlömer: Sie wurde Grundschullehrerin, ihre beste Freundin, die mit ihr in Kur kam, Erzieherin.
Laut dem Verein „Aufarbeitung Verschickungskinder NRW“ schlugen auffällig viele ehemalige „Verschickungskinder“ eine pädagogische Laufbahn ein. So auch Beate Schlömer: Sie wurde Grundschullehrerin, ihre beste Freundin, die mit ihr in Kur kam, Erzieherin. © Michael Schlömer

Was wir schwierig fanden, war, dass die Post kontrolliert wurde. Man konnte schreiben, was man wollte, aber das wurde dann redigiert. Ich bin sehr gleichberechtigt aufgewachsen und muss das als sehr übergriffig empfunden haben, dass sie meine Post gelesen haben.

Damals hatte ich ein paar Kilo zu wenig, es ging also ums Zunehmen. Es wurde sehr regelmäßig das Gewicht kontrolliert. Aber das Heimweh hat mir den Appetit verschlagen. Als ich zurückkam, hatte ich nicht mehr Gewicht als vorher. Insofern war das Ziel verfehlt.

Gegen Ende der Kur bin ich schwer krank geworden, mit Fieber und Delirium. Ich denke, dass meine Eltern darüber nicht informiert wurden. Wenn sie das gewusst hätten, wären sie gekommen und hätten mich abgeholt. Ich habe bei der Rückkehr auch von meinem Heimweh erzählt. Es wäre für mich undenkbar gewesen, dort noch mal hinzufahren.“

>>> INFOS für Betroffene

  • Wer sich für die Arbeit des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“ interessiert, findet weitere Informationen auf der Internetseite www.kinderverschickungen-nrw.de. Dort können Betroffene auch Erfahrungsberichte hinterlassen.
  • Vereinsvorstand Detlef Lichtrauter steht Betroffenen aus NRW jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung und vermittelt Kontakte: Tel. +49 (0) 1631-328215 | detlef.lichtrauter@akv-nrw.de.
  • Weitere Informationen zum Thema liefert auch die bundesweite „Initiative Verschickungskinder“ auf ihrer Website unter www.verschickungsheime.de.