Düsseldorf. Gewalt und Missbrauch an Kindern bei „Verschickungskuren“ soll jetzt erstmals systematisch aufgearbeitet werden. NRW ist Vorreiter.
Hunger, Schläge, Demütigungen - für Zehntausende Kinder wurden Kinderkuren besonders in den 1950er bis 1980er Jahren zu einem Trauma, das sie ihr Leben lang verfolgte. Im Landtag NRW kamen jetzt erstmals Betroffene, Politiker und Vertreter ehemaliger Trägerorganisationen zu einem Runden Tisch zusammen, um die Misshandlungen der sogenannten Verschickungskinder aufzuarbeiten.
Betroffene der sogenannten Kinderverschickungen fordern eine Aufklärung der Gewalt- und Missbrauchstaten durch Bund und Länder. Der Landtag NRW unterstütze die Aufklärungsbemühungen, sagte Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW am Mittwoch. Doch die Bemühungen würden an Grenzen stoßen, weil die Organisation der sogenannten Kindererholungskuren über die einzelnen Bundesländer hinausgegangen und auch der Bund involviert gewesen sei. „Wir brauchen eine länderbasierte und vom Bund gesteuerte Aufklärungsarbeit“, forderte er.
Das Leid der Verschickungskinder: Kuren, die zum Alptraum wurden
„Es geht darum, dass das, was viele Kinder in den 50er, 60er, 70er Jahren erlebt haben, aufgearbeitet wird“, sagte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) bei der Eröffnung einer Kunstausstellung im Landtag, die sich um das Leid der einstigen Kurkinder dreht. Auch die damaligen Träger müssten benannt werden, deren Kuren „zum Alptraum“ für manche Menschen geworden seien. Aber es müsse auch gefragt werden: „Wo war eigentlich der Staat?“ Laumann forderte angesichts der Misshandlungen sowohl von damaligen Heimkindern als auch Verschickungskindern „eine große Sensibilität für Gewalt in Betreuungssystemen“.
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Laumann bekräftigte den Willen des Landes, die Gewalt- und Missbrauchstaten an Kindern bei den sogenannten Verschickungskuren aufzuarbeiten. Es sei „höchste Zeit, dieses Leid wahrzunehmen“ und Ursachen sowie Umstände systematisch und umfassend zu erforschen und aufzuarbeiten, sagte Laumann. Das Gremium vereinbarte nach Ministeriumsangaben, dass alle für die Aufarbeitung relevanten Aktenbestände gesichert werden sollen. So solle die Aufarbeitung von Leid und Traumata unterstützt werden
Systematische Gewalt bei Kinderkuren über vier Jahrzehnte
Der Verein Verschickungskinder fordert neben einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Kinderkuren die Schaffung eines Therapiefonds, aus dem Behandlungen für Langzeiterkrankte finanziert werden. „Die Langzeitfolgen für Mitbetroffene sind unermesslich“, sagte der Vorsitzende Lichtrauter. Die Betroffenen stellen aber keine finanziellen Forderungen. „Wir erwarten Antworten auf die Fragen nach Ursachen von systematischer Gewalt und von schwarzer Pädagogik, die über vier Jahrzehnte angewandt wurden“, sagte Lichtrauter. Die Kontrolle bei den Kinderkuren habe „nahezu kollektiv versagt“.
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Der Runde Tisch unter der Leitung der ehemaligen Opferschutzbeauftragten Elisabeth Auchter-Mainz soll etwa vier Mal im Jahr zusammenkommen. Am Ende des Aufarbeitungsprozesses müssten auch „sicher Maßnahmen stehen“, sagt Minister Laumann. Beteiligt sind unter anderem die Landschaftsverbände, Caritas und Diakonie, Ärztekammern, das Deutsche Rote Kreuz und der GKV-Spitzenverband.
NRW nimmt bei Aufarbeitung Vorreiterrolle ein
Der Jugenddezernent des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), Knut Dannat, erklärte, die Schilderungen der Betroffenen bei der Sitzung hätten „schlicht fassungslos gemacht“. Der Runde Tisch werde etwa aufklären, nach welchen Kriterien Kinder verschickt wurden, wie die „Pädagogen“ dort geschult wurden, wie Leitbild und Betreuung dort aussahen und wie der „rechtsfreie Raum“ entstehen konnte, in dem Kinder gedemütigt, bestraft, geschlagen und sediert wurden. Für die Aufarbeitung wolle der LVR die eigenen Akten sichern und der Forschung zugänglich machen. Der LVR hatte selbst keine „Verschickungskuren“ angeboten, aber die Landesjugendämter hatten Kinder zu solchen Angeboten geschickt.
Laut einer Studie des NRW-Gesundheitsministeriums wurden allein in Nordrhein-Westfalen zwischen 1949 und 1990 Fahrten für über 2,1 Millionen Kinder in Kur- oder Erholungsheime organisiert. Die Zeitzeugenberichte wie Schläge, Essens- und Schlafentzug oder Essenszwang, Isolierung und Demütigung in den Kurheimen bezeichneten die Autoren der Studie grundsätzlich „als in hohem Maße glaubwürdig“.
Für alle Bundesländer der damaligen Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren verschickten Kinder nach unterschiedlichen Berechnungen auf sechs bis acht Millionen oder sogar auf zwölf Millionen geschätzt. NRW nimmt mit der Aufarbeitung eine Vorreiterrolle ein.
(dpa/epd)