Bottrop. Jahrzehntelang wurden Millionen Kinder zur Erholung in Kurheime verschickt. Viele durchlebten Höllenqualen und sind noch heute traumatisiert.

Elke Chmiel kann keinen Tropfen Milch im Kaffee trinken. Sie kann nicht mit dem Gesicht zur Wand schlafen. Sie erträgt keine Finsternis in der Nacht, immer muss ein Licht leuchten. Sie bekommt Gänsehaut, wenn sie auf der A2 Richtung Norden Bad Oeynhausen passiert. Denn all dies erinnert sie an die düsterste Zeit in ihrem Leben.

Elke Chmiel war ein Verschickungskind, eines von vielen Millionen in Deutschland, die zwischen 1950 und 1990 zur vermeintlichen Erholung in die Kur gegeben worden sind. Eine von vielen Tausenden, die dort Gewalt und Misshandlungen erlebten. Wir haben mit ihr und weiteren Betroffenen über die erschütternden Erinnerungen gesprochen. Über das Leid, das sie noch heute mit sich tragen.

Dieser Artikel erschien erstmals im Januar 2024. Nach der Berichterstattung hat die Stadt Bottrop Betroffene zu einem Austausch eingeladen: am Dienstag, 9. April, ab 18 Uhr im Haus der Vielfalt, Gerichtsstraße 3.

Verschickungskinder aus Nordrhein-Westfalen: Alles auf den Tisch, was fett macht

Sie verbrachten Wochen an Orten, an denen Menschen Urlaub machen. Weil sie selten zu dick, meistens zu dünn und zu blass waren. Auf Norderney, in Bad Oeynhausen, im Westerwald. Dort, wo Kur-Touristen sich erholen, haben Kinder in den 60er und 70er Jahren die Hölle erlebt. Es liegen hunderte Betroffenenberichte darüber vor: Sie mussten stundenlang im Flur stehen, durften nachts ihre Betten nicht verlassen, auch nicht, wenn sie sich einnässten. Sie durften nicht spielen, nur spazieren gehen. Und sie mussten essen. Bis auf den letzten Krümel alles aufessen. Bis sie sich in den Teller übergaben. Dann mussten sie das Erbrochene essen.

Das Essen war das Schlimmste, so schildern sie es alle. „Wir wurden gemästet“, sagt Elke Chmiel. Sie sitzt in ihrer kleinen Wohnküche in einem schlichten Mehrfamilienhaus im Bottroper Fuhlenbrock. Ihre blonden Strähnen sind gelockt, mit grauem Ansatz, in den Ohren glitzern Stecker mit fünf Steinchen, zwei französische Bulldoggen Popeye und Amadeus liegen zu ihren Füßen. Wenn sie spricht, zittert sie leicht. Sie hat Gänsehaut.

Elke Chmiel mit ihren französischen Bulldoggen: Sie ist noch heute traumatisiert von den Erlebnissen im Kinderkurheim in Bad Oeynhausen.
Elke Chmiel mit ihren französischen Bulldoggen: Sie ist noch heute traumatisiert von den Erlebnissen im Kinderkurheim in Bad Oeynhausen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Im Auguste-Viktoria-Kinderheim in Bad Oeynhausen Ende der 70er Jahre kam auf den Tisch, was Kalorien hatte, „alles, was fett macht“, wie die heute 54-Jährige sagt. Morgens Caro-Kaffee mit Milch, Haferschleim in großen Bechern. Mittags Kartoffeln mit flüssigem Fett darüber. Als Elke, damals acht oder neun Jahre alt, sie weiß es nicht mehr genau, kein Fett will, schüttet es ihr eine Betreuerin einfach über die Hand.

ZDF-Krimi bringt die Erinnerungen wieder hoch

Jedes Kind muss sitzenbleiben, bis alles aufgegessen ist. Elke Chmiel bleibt immer lange sitzen. Stunden verbringt sie im Essenssaal, rennt danach mit dicken Backen direkt auf die Toilette und übergibt sich in die Kloschüssel. Ihre eigenen Kinder, zwei heute jugendliche Pflegekinder, hat sie nie in die Toilette brechen lassen, wenn sie krank waren, nur ins Waschbecken, in die Badewanne.

Schüchtern sei sie gewesen, klein und zurückhaltend, ein Mädchen, das nicht auffallen will. Und doch gehört sie immer zu denjenigen, die bestraft werden. Die nachts Stunden im Treppenhaus verbringen, mit dem Gesicht zur Wand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, weil sie während der Nachtruhe gesprochen haben. Die geweckt werden, um sich umzudrehen, weil ihr Gesicht im Schlaf nicht zur Wand zeigt.

Elke Chmiel als Kind. Ende der 70er Jahre verbrachte sie sechs Wochen im Kinderkurheim in Bad Oeynhausen.
Elke Chmiel als Kind. Ende der 70er Jahre verbrachte sie sechs Wochen im Kinderkurheim in Bad Oeynhausen. © WAZ

Anfang Januar läuft der Schwarzwald-Krimi „Schneekind“ im ZDF, ein Zweiteiler mit Jessica Schwarz und Max von Thun. Es geht um Morde in einem alten Kinderheim. Da kommt bei Elke Chmiel die Erinnerung wieder hoch. An das Essen bis zum Erbrechen, an das stille Ausharren im Flur, an den stockfinsteren Schlafsaal. Sie schreibt einen Post in eine Bottroper Facebook-Gruppe, fragt, ob jemand auch solche Erfahrungen machen musste. 200 Kommentare sammeln sich in den nächsten Stunden darunter.

Allein aus Nordrhein-Westfalen sind 1,8 Millionen Kinder verschickt worden

Es sind Kommentare des Grauens. Von Menschen, die die gleichen, schrecklichen Erinnerungen teilen wie Elke Chmiel. Die stundenlang am Esstisch sitzen mussten, die geschlagen wurden, die ausgemergelt und krank nach Hause kamen, dabei sollten sie sich doch erholen. Die heute noch darunter leiden.

Millionen Kinder sind zwischen 1950 und 1990 verschickt worden, 1,8 Millionen allein aus Nordrhein-Westfalen. Oft ordneten die Ärzte des Gesundheitsamtes die Kuren für zu dünne Kinder an; sie untersuchten Mädchen und Jungen in Kindergärten und Schulen und ordneten eine Erholung an. An der Nordsee, im Sauerland, im Weserbergland. In den mehr als 300 Heilbädern Deutschlands. Wie hoch die Zahl der Misshandelten ist, kann nicht genau gesagt werden. Aber allein der Verein Verschickungskinder NRW, der sich für die Aufarbeitung der Leiden in Kinderkurheimen einsetzt, hat Kontakt zu mehr als 720 Betroffenen in Nordrhein-Westfalen.

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In den 60er und 70er Jahren herrschen technokratische Strukturen. Es ist die Zeit der Babyboomer, in Deutschland gibt es so viele Kinder wie nie. Gerade aus Arbeiterfamilien im Ruhrgebiet, wo die Luft schlecht ist in diesen Jahrzehnten, wo kein Geld zum Verreisen übrigbleibt, schicken viele Eltern ihre Kinder in die Erholungskuren, bezahlt von den Krankenkassen.

Ehemaliges Verschickungskind: „Die Eltern haben alles gemacht, was der Staat wollte“

„Die Eltern haben alles gemacht, was der Staat wollte“, sagt Konni Schulte-Loh. Sie sitzt in einem Eiscafé in Gelsenkirchen-Horst, trägt enge schwarze Hosen, einen schwarzen Rollkragenpullover, die Haare glatt und strohblond. Sie ist zart, fast dünn, ungeschminkt. Beim Sprechen hält sie immer den Blickkontakt.

„Es waren andere Zeiten“, sagt sie. Konni Schulte-Loh ist heute 56 Jahre alt. Mit fünf Jahren fährt sie mit dutzenden anderen Kindern von Bottrop nach Norderney, ins Vestische Kinderkurheim. Sie soll die Tochter einer Bekannten begleiten und ist auch selbst zu dünn. Sechs Wochen bleibt sie alleine dort, kennt nur das eine Mädchen, sonst niemanden. Sie leidet.

Das Vestische Kinderheim auf Norderney in den 1960er Jahren.
Das Vestische Kinderheim auf Norderney in den 1960er Jahren. © WAZ | WAZ Archiv

„Wir haben alles unter Aufsicht gemacht: Zähne geputzt, Pipi gemacht, geschlafen“

Ihre Erinnerungen sind bruchstückhaft. Da ist der lange Flur mit dem Schrank in der Ecke, neben dem sie stehen muss, weil sie nachts das Bett verlassen hat. Um ihre Decke aufzuheben, die herausgefallen ist. Aber Aufstehen ist strikt verboten. Da ist der Essenssaal, in dem auch sie Stunden verbringt, erlebt, wie das Kind neben ihr erbricht und weiteressen muss. „Es hat mich so angeekelt, aber ich wollte auf keinen Fall, dass mir das passiert“, sagt sie. „Ich habe versucht, alles in mich reinzustopfen.“

Da sind die Badewannen mit nur einer Handbreit braunem Wasser, mehrere nebeneinander, in denen sich die Kinder waschen, während die Aufpasserin daneben sitzt. „Wir haben alles unter Aufsicht gemacht, unter Aufsicht Zähne geputzt, unter Aufsicht Pipi gemacht, unter Aufsicht geschlafen.“ Die Kinder dürfen nur fröhliche Bilder malen, sonst werden sie nicht versendet an die Eltern.

In ihrer Erinnerung habe sie den halben Tag im Flur gestanden. Oder im Bett gelegen. Von 18.30 bis 7.30 Uhr war Bettruhe, dazu noch eine Stunde Mittagsschlaf. „Es ging nicht darum, uns ein schönes Erlebnis zu bereiten“, sagt Konni Schulte-Loh, „sondern darum, den Tag schnell rum und uns ins Bett zu kriegen.“

„Viel Freude bereiten die Spiele im Gruppenzimmer“, schreibt die WAZ im Sommer 1967 über das Vestische Kinderheim auf Norderney.
„Viel Freude bereiten die Spiele im Gruppenzimmer“, schreibt die WAZ im Sommer 1967 über das Vestische Kinderheim auf Norderney. © WAZ | WAZ Archiv

Vestisches Kinderkurheim auf Norderney geführt von Recklinghausen, Gladbeck und Bottrop

Anfang der 1920er Jahre kauft die Stadt Gladbeck ein Haus auf Norderney, um dort ein Kinderheim zu errichten. Sie gründet eine Gesellschaft, die künftig als Trägerin des „Vestische Kinderheims“ fungiert. Die Städte Recklinghausen und Bottrop schließen sich der Gesellschaft an. Die WAZ nennt dies 50 Jahre später einen „weitsichtigen und sozialen Schritt“. Bis 1965 wird es von Schwestern eines Berliner Ordens geführt, dann übernimmt ein Heimleiter mit zehn Kindergärtnerinnen.

Der Stadt Recklinghausen liegen zu den Misshandlungserfahrungen im Vestischen Kinderheim nur „sehr rudimentäre Informationen“ vor, sagt Stadtsprecherin Isabel Wessels. „Natürlich gehören unser Mitgefühl und unsere Solidarität den Betroffenen, die in der genannten Einrichtung Opfer von Misshandlungen geworden sind.“ Die Stadt befinde sich im Austausch mit den Akteuren, „um das Geschehene und die Umstände in einem ersten Schritt überhaupt nachzuvollziehen“. Dieser Prozess sei allerdings aufgrund fehlender Archivmaterialien sehr schwierig.

Videoportrait: Zwei Betroffene erzählen

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    Bottroperin im Kinderkurheim auf Norderney: „Es wurde totgeschwiegen“

    Als Konni Schulte-Loh nach sechs Wochen aus der Kur kommt, glauben ihre Eltern ihr nicht, was sie erzählt. Sie habe doch fröhliche Bilder gemalt, habe doch im ersten Moment erzählt, dass es schön gewesen sei. „Es wurde totgeschwiegen“, sagt sie. „Auf die Psyche der Kinder wurde keine Rücksicht genommen.“

    Viele Jahre hat sie kaum darüber nachgedacht, aber als sie die Schilderungen von Elke Chmiel liest und von den vielen anderen, beschreibt auch sie in der Facebook-Gruppe ihre Erfahrungen. Sie dachte immer, sie sei die einzige, die das erlebt hat. „Es war so schön zu sehen, dass ich es nicht bin, dass mir endlich jemand glaubt.“

    Konni Schulte-Loh ist als Fünfjährige nach Norderney verschickt worden. Sie sagt: „Auf die Psyche der Kinder wurde keine Rücksicht genommen.“
    Konni Schulte-Loh ist als Fünfjährige nach Norderney verschickt worden. Sie sagt: „Auf die Psyche der Kinder wurde keine Rücksicht genommen.“ © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

    Über 50 Jahre sind diese Erlebnisse her, Konni Schulte-Loh hat sechs Kinder bekommen, hat ihren zweiten Ehemann verloren, wohnt mit ihren beiden jüngsten Kindern, 17 und 22 Jahre alt, in Gelsenkirchen. Doch auch wenn ihr Leben so viele Volten geschlagen hat, die Erinnerung an Norderney bleibt und zermürbt sie. Bis heute hat sie die Insel nie wieder betreten, obwohl sie Gelegenheit dazu gehabt hätte.

    Erinnerung an Waldbreitbach: „Die Nonnen haben draufgehauen, wie auf kaltes Eisen“

    Wie tief die Wunden sind, merkt auch Bärbel Löbert, als sie die Schilderungen der anderen liest. „Da hat alles pulsiert“, sagt die 67-Jährige. Ein Kindergartenkind ist sie, als sie etwa 1960 in den Westerwald verschickt wird. Auch sie ist zu dünn, zu blass. Ihre Erinnerungen sind verschwommen, aber Fragmente sind noch da: das erbrochene Essen. Die Nonne, die ihre Bettnachbarin schlägt, nach links, nach recht ausholt mit der flachen Hand, eine Backpfeife nach der nächsten vergibt. „Sie hat so geprügelt, ich hatte Angst.“ Sie weiß von Geschenken, die ihre Mutter und Oma ihr geschickt hatten, und die von den Nonnen an alle Kinder verteilt worden sind.

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    Bärbel Löbert war in Waldbreitbach, einem Kinderheim, das von der Stadt Bottrop betrieben und von den Vorsehungsschwestern, einem Münsteraner Nonnenorden, geführt wurde. Draufgehauen haben sie, die Nonnen, wie auf kaltes Eisen, sagt Bärbel Löbert. Gesichtslos sind sie in ihrer Erinnerung, gehüllt in ihren Habit. Der Orden ließ eine Anfrage dieser Redaktion unbeantwortet.

    Das Kinderheim in Waldbreitbach ist von der Stadt Bottrop betrieben worden.
    Das Kinderheim in Waldbreitbach ist von der Stadt Bottrop betrieben worden. © WAZ

    Der Stadt Bottrop seien keine Berichte über Misshandlungen aus Waldbreitbach bekannt, sagt Stadtsprecher Andreas Pläsken. Auch Stadtarchivarin Heike Biskup, die diese Recherche unterstützt hat, kennt zwar die Leiden der Verschickungskinder aus Artikeln und Dokumentationen, aber nicht aus Bottrop. Während die Aufklärung des Missbrauchs in der katholischen Kirche in den vergangenen 15 Jahren intensiv vorangetrieben wurde, steht die Aufarbeitung der Qualen der Verschickungskinder noch ganz am Anfang.

    Die Chancen auf Entschädigung stehen schlecht, zu konfus sind die Strukturen der Verantwortlichen, oft fehlt es an Belegen für den Aufenthalt in der Kur. Die Initiative Verschickungskinder fordert einen Entschädigungsfonds. Den betroffenen Frauen geht es nicht ums Geld, aber um die persönliche Aufarbeitung. „Ich lese Berichte, ich sehe Dokumentationen, und dann kommt alles wieder hoch“, sagt Elke Chmiel. „Aber verdrängen, das ist doch nicht Sinn der Sache.“

    Kontakt für Betroffene

    Wer selbst als Verschickungskind misshandelt worden ist, Hilfe oder Austausch sucht, kann Kontakt zum Verein Verschickungskinder NRW aufnehmen.

    Ansprechpartner sind zu finden unter www.kinderverschickungen-nrw.de/hilfe. Dort sind auch die verschiedenen Selbsthilfegruppen aufgelistet. Detlef Lichtrauter steht auch als direkter Kontakt zur Verfügung: Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de, Rufnummer: 01631328215.