Ruhrgebiet. Zwischen den 50er- und 90er-Jahren wurden tausende Kinder aus NRW in Erholungskuren geschickt. Viele von ihnen kehrten traumatisiert zurück.

B. D. war ein „fröhliches, ständig schnabbelndes Mädchen“. Bis sie Mitte der 60er-Jahre in eine Kur verschickt wurde, die Erholung versprach und stattdessen für sie und tausende andere Kinder Trauma bedeutete: „Die schlimmste Erinnerung, die ich noch habe, war, dass ich auf einer Liege lag und von einer Betreuerin gefüttert wurde mit Möhreneintopf. Als ich diesen erbrach, wurde ich mehrmals ins Gesicht geschlagen und musste das Erbrochene aufessen.“

Ein halbes Jahrhundert später wird das, was „Verschickungskindern“ in Kurheimen in ganz Deutschland widerfahren ist, aufgearbeitet. Warum erst jetzt? Für Detlef Lichtrauter, Vorstand im Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V., liegt die Antwort auf der Hand: „Viele Betroffene berichten, dass sie im Nachgang der Kinderkur dachten: ‘Das ist nur mir passiert.’“ Weit gefehlt.

Rund zwei Millionen Kinder aus NRW verschickt

Ein Rückblick: In der Nachkriegszeit war Mangelernährung bei Kindern weit verbreitet, sie sollten in Kuren fernab der Heimat „aufgepäppelt“ werden. Doch auch die Jahrgänge, die davon nicht mehr unmittelbar betroffen waren, wurden tausendfach verschickt. Laut einer Überblicksstudie, die das NRW-Sozialministerium im Januar 2022 vorlegte, haben von 1949 bis 1990 zwischen 1,7 und 1,9 Millionen Kinder in NRW an Kurmaßnahmen teilgenommen. Sie wurden hauptsächlich an die Nord- und Ostsee, in den Schwarzwald oder ins Hochgebirge geschickt.

Dass sie in den mehrwöchigen Aufenthalten mitunter traumatische Erfahrungen machen mussten, zeigen an die 10.000 Erfahrungsberichte, die die „Initiative Verschickungskinder“ gesammelt hat. Betroffene aus ganz Deutschland berichten darin von Willkür, strengen Regeln und diktierten Briefen an die Eltern; von drakonischen Strafen, Essenszwang, Missbrauch und Gewalt. „Wir wissen, es gab Heime unter guter Führung, mit empathischem Personal“, betont Detlef Lichtrauter, man schaue sich jedes einzelne Heim an. Aber die Zahlen sprechen für sich: Über 90 Prozent der Berichte, die der Initiative vorlägen, bewerteten die Kurerfahrung negativ.

Detlef Lichtrauter ist selbst Betroffener. Als Vorstand im Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW wird er mit am Runden Tisch sitzen, der im kommenden Jahr erstmals zusammentreten und den Austausch zwischen Betroffenen und Verantwortlichen ankurbeln soll.
Detlef Lichtrauter ist selbst Betroffener. Als Vorstand im Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW wird er mit am Runden Tisch sitzen, der im kommenden Jahr erstmals zusammentreten und den Austausch zwischen Betroffenen und Verantwortlichen ankurbeln soll. © FUNKE Foto Services | Arnulf Stoffel

Betroffene beklagen flächendeckende Missstände in Kurheimen

Lichtrauter ist innerhalb der Initiative als Landeskoordinator für NRW zuständig. Sein Verein, 2021 gegründet, betreut schon jetzt rund 500 Betroffene. Viele von ihnen wollen anonym bleiben, das kommt für den 61-Jährigen nicht überraschend: „Es ist typisch für Betroffene, dass sie ein diffuses Schuld- oder Schamgefühl haben, weil ihnen das in der Kur eingetrichtert wurde.“ Er selbst verbrachte als Zwölfjähriger sechs Wochen im berüchtigten Kindersanatorium „Haus Bernward“ in Bonn-Oberkassel. Berüchtigt deshalb, weil Kindern dort Psychopharmaka und andere Medikamente verabreicht wurden, wohl um sie fügsamer zu machen und Heimweh vorzubeugen. Ehemalige Heimbewohnerinnen und -Bewohner berichten außerdem von sexuellen Übergriffen.

Woher rührten aber die Missstände, von denen viele „Verschickungskinder“ berichten? Für Lena Krull, Historikerin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, liegen sie unter anderem in der Organisation der Verschickungsheime begründet. So seien die Einrichtungen oft unterbesetzt, das Personal schlecht bezahlt gewesen. „Deshalb waren die Träger auch immer darum bemüht, dass die Kuren möglichst ausgelastet und so die Finanzierung gesichert war. Das ging zulasten der Betreuung.“ Hinzu kämen unzureichende staatliche Kontrollen und pädagogische Methoden – beispielsweise das Beharren auf leer gegessene Teller –, die heute längst als veraltet gelten.

Betroffene leisten großen Beitrag zur Aufklärung

Jahrzehntelang blieb der Komplex der Kinderverschickungen weitgehend unerforscht. Die Gründung der „Initiative Verschickungskinder“ 2019 brachte die Aufarbeitung voran. „In NRW haben wir das Glück, dass wir von der Politik gut unterstützt werden“, betont Detlef Lichtrauter. Ende 2021 beschloss der Landtag, den Verein Aufklärung Kinderverschickungen NRW auf vier Jahre mit über 500.000 Euro zu fördern. Davon wolle man unter anderem Therapieangebote schaffen und Rechercheworkshops anbieten. Und sich dafür einsetzen, dass den Betroffenen für ihre Nachforschungen freier Zugang zu Archiven gewährt wird.

Lena Krull forscht am Historischen Seminar der Universität Münster unter anderem schwerpunktmäßig zu Kinderheilkuren in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert.
Lena Krull forscht am Historischen Seminar der Universität Münster unter anderem schwerpunktmäßig zu Kinderheilkuren in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert. © Stefan Klatt

Ein nicht unwesentlicher Punkt, wie Historikerin Lena Krull erklärt: „Akten, die in öffentlichen Archiven liegen, sind dank Archivgesetz für Betroffene und Forschung zugänglich.“ Bei privaten Organisationen oder Unternehmen sei das nicht der Fall. Dort gebe es keine Pflicht zur Aufbewahrung und die Archive seien häufig nicht professionell geführt, weshalb Betroffene oft die frustrierende und nicht immer zutreffende Antwort erhielten: „Wir haben nix“.

Runder Tisch soll Kinderverschickungen in NRW aufarbeiten

Mehr Bewusstsein für das Thema Kinderverschickungen soll ein Runder Tisch schaffen, der im kommenden Jahr in NRW die Arbeit aufnehmen wird. Ziel ist es, Betroffene und Vertreter ehemaliger Träger und Organisatoren zusammenzubringen. Detlef Lichtrauter hat einen Platz am Tisch. Wer seine Sitznachbarinnen und Sitznachbarn sein werden, steht noch nicht ganz fest. Mögliche Gesprächspartner sind etwa die Caritas und die Diakonie, die Freie Wohlfahrtspflege und die Landesärztekammer, aber auch Betroffene, Wissenschaftler und Abgeordnete.

Finanzielle Entschädigung für einzelne Betroffene fordert der Verein übrigens ausdrücklich nicht. Das liege mitunter daran, dass viele ehemalige „Verschickungskinder“ keine persönlichen Dokumente mehr besäßen, die die Verschickung oder den Aufenthalt im Heim belegen könnten. Was sich die Betroffenen stattdessen erhoffen? „Faire und offene Kooperation“, so Lichtrauter. „Und die Bereitschaft, sich den Fehlern der Vergangenheit zu stellen und daraus eine Entschuldigung zu formulieren. Das halten wir für angemessen.“

>>> INFO: Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW

  • Wer sich für die Arbeit des Vereins interessiert, findet weitere Informationen auf der Internetseite www.kinderverschickungen-nrw.de. Dort können Betroffene auch Erfahrungsberichte hinterlassen.
  • Vereinsvorstand Detlef Lichtrauter steht Betroffenen aus NRW jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung: Tel. +49 (0) 1631-328215 | detlef.lichtrauter@akv-nrw.de.
  • Weitere Informationen zum Thema liefert auch die bundesweite „Initiative Verschickungskinder“ auf ihrer Website unter www.verschickungsheime.de.