Bottrop. Gerda Scholer zog vor drei Monaten ins Hospiz. Ihre „Fenster“ nach draußen sind iPad und Smartphone. Aber sie sagt: „Hier wird wirklich gelebt.“

„Ich bin froh, dass ich hier bin, hier sein darf“, sagt Gerda Scholer und legt ihr iPad zur Seite. Aber in Reichweite, ebenso wie ihr Smartphone. Beides sind für sie ihre „Fenster nach draußen“, die sie wie selbstverständlich öffnet und schließt. Je nach Bedarf bewegt sie sich sicher über Tastatur und Touchscreen, mailt, chattet, informiert sich. Videoanrufe sind für sie selbstverständlich.

Damit gehört die 88-Jährige sicher zu einer Minderheit ihrer Generation. Aber die Technik hilft Gerda Scholer, Kontakte zur Familie, zu Freunden und Bekannten zu halten. Auch wenn man es der lebhaften, gut frisierten älteren Dame nicht anmerkt, nicht ansieht: Sie lebt seit September im Bottroper Hospiz. Es ist wohl die letzte Station: „Wenn kein Wunder geschieht.“

„Ich weiß, hier endet wohl der letzte Abschnitt meines Lebens“

Im Januar wurde bei ihr – neben anderem – ein Lungenkarzinom festgestellt. „Nicht mehr heilbar, es gibt auch schon Metastasen.“ Von der Palliativstation im Krankenhaus in Duisburg-Fahrn sollte sie entlassen werden, in ein Pflegeheim, ins eigene Haus nach Dinslaken ging es nicht mehr. Das sei mindestens genauso schlimm gewesen wie die Diagnose.

„Ich war ganz tief unten, vor allem, weil es vorher außer einer Kurzatmigkeit keine Anzeichen gegeben hat, auf jeden Fall nicht für Lungenkrebs, ich hatte eher gedacht, es hätte etwas mit dem Herzen zu tun.“ Gerda Scholer spricht offen über ihre Krankheit. „Was soll ich auch sonst tun, ich weiß, dass dies der allerletzte Abschnitt meines Lebens ist.“

Dass sie diesen Abschnitt so erleben würde, hat sie sich nie vorstellen können. Auch von dem, was ein Hospiz wirklich ist, habe sie keine konkrete Vorstellung gehabt. „Na ja, ein Haus für Todkranke, eine Mischung aus Altenheim und Krankenhaus.“ So dachte sie jedenfalls, als die Chefärztin im Krankenhaus im Sommer diesen Vorschlag machte. Und dann wurde in Bottrop ein Platz frei.

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Ihr Sohn habe den Kontakt zum Hospiz-Team aufgenommen, die alte Chefarztvilla an der Osterfelder Straße besucht. „Seine Beschreibung, die Fotos und dann mein erster Eindruck waren fast identisch. Man hat das Gefühl, ein Privathaus zu betreten, vielleicht auch eine gut geführte Familienpension, aber bestimmt keinen Ort, an dem ständig gestorben wird.“

Manche Gäste leben Jahre, andere nur wenige Stunden im Bottroper Hospiz

Später erfahren wir von Bettina Allkemper, seit Eröffnung des Hauses 2014 im Team, dass seit August 45 Menschen an der Osterfelder Straße 151a bereits verstorben sind. Die Aufenthaltsdauer schwanke zwischen Jahren und Stunden. Ein Mann sei angekommen und bereits nach anderthalb Stunden verstorben. „Er konnte gar nicht richtig einziehen“, erinnert sich Bettina Allkemper.

Gerda Scholer hat sich seit ihrer Ankunft erholt. Inzwischen freut sie sich auch wieder über Besuch. „Zuerst ging es mir richtig dreckig, ich habe allen gesagt: Bleibt weg.“ Dann habe man sie im Hospiz wieder so richtig „aufgemöbelt, auch stimmungsmäßig“. Dass die Krankheit ernst, lebensbedrohlich, ist, merkt man ihr keine Sekunde an. „Es tut auch nichts weh, Ärzte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Ehrenamtlichen, die das Leben im Haus bereichern: Sie alle nehmen sich Zeit, es ist keine Hektik im Hospiz.“

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Seit sie dort ist, könne sie sagen: „Es gibt so etwas wie ein gutes Ende im Leben.“ Nein, sie weine nicht, obwohl sie früher „nahe am Wasser gebaut“ habe. „Das passiert höchstens noch, wenn ich Musik höre.“ Gute Musik könne eben doch zu Herzen gehen, weiß die alte Dame, die in ihrer Jugend immerhin acht Jahre Klavierunterricht hatte. Ein Lied des längst verstorbenen Showmasters und Sängers Heinz Schenk trifft auch ihre Stimmung: „Es ist alles nur geliehen, hier auf dieser schönen Welt“.

Ihre engste Familie hat Gerda Scholer im Hospiz immer vor Augen: Ein Foto zeigt sie als 13-jährige mit ihren Eltern 1948. Daneben ihr Sohn mit Frau und den beiden Enkelinnen. Im Hintergrund ihr zweiter, mit Ende 40 verstorbener, Sohn. Einen weiteren Platz widmet sie aber auch ihrem vor elf Jahren verstorbenen Ehemann.
Ihre engste Familie hat Gerda Scholer im Hospiz immer vor Augen: Ein Foto zeigt sie als 13-jährige mit ihren Eltern 1948. Daneben ihr Sohn mit Frau und den beiden Enkelinnen. Im Hintergrund ihr zweiter, mit Ende 40 verstorbener, Sohn. Einen weiteren Platz widmet sie aber auch ihrem vor elf Jahren verstorbenen Ehemann. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Hoffnung? Nachdenklich blickt die frühere Röntgenassistentin durch ihr Zimmer. Gegenüber stehen Familienfotos. Die 13-jährige Gerda mit ihren Eltern, ihr vor elf Jahren verstorbener Ehemann, der Sohn mit Frau und den beiden Enkelinnen („tolle Mädchen“). Ein Foto zeigt ihren zweiten Sohn, er starb in seinen 40ern. Es sei vielleicht keine Hoffnung im strengsten religiösen Sinn: Aber als Katholikin hofft Gerda Scholer schon, dass sie ihre Lieben einmal wiedersieht. „Der Sinn des Lebens ist für mich, dass es nach dem Tod in irgendeiner Form weitergeht.“

Das Hospiz hat sie in diesen Wochen geprägt, beruhigt. Etwas möchte Gerda Scholer aber noch loswerden: „Allen, die Krankheit in eine ähnliche Situation bringt, kann ich nur sagen, habt keine Angst davor, geht ins Hospiz.“ Über das Bottroper Haus habe sie irgendwo gelesen, es sei ein Haus des Lebens. „Das stimmt, trotz aller schweren Krankheiten, die die Gäste durchleiden: Hier wird wirklich gelebt.“

Zehn Jahre stationäres Hospiz Bottrop

2014 eröffnet das erste stationäre Hospiz in Bottrop an der Osterfelder Straße 151a. Damals zogen die ersten Gäste am Rosenmontag ein.

Mit der Geschichte von Gerda Scholer beginnt die WAZ eine dreiteilige Serie, die die lange Vorgeschichte der Einrichtung und die Arbeit der ersten zehn Jahre nachzeichnet.

Für ihre erfolgreiche Arbeit sind sowohl die schon viel länger bestehende ambulante Hospizgruppe als auch das stationäre Hospiz nach wie vor auf Spenden angewiesen. Infos zu beiden Einrichtungen gibt es auf: hospizbottrop.de oder hospizgruppe-bottrop.de.