Bottrop. Seine Eltern bangten um sein Leben, als Jonas mit 590 Gramm viel zu früh geboren wurde. So haben sich der Junge und andere Frühchen entwickelt.
Jonas ist ein Vierjähriger, wie er fröhlicher nicht sein könnte. Er spielt, er lacht ausgelassen, er mag nicht still sitzen. Sein leicht schwankend wirkender Gang bremst ihn nicht in seiner Aktivität. Kaum zu glauben, dass Jonas einst ums Überleben kämpfte. Mama Nadine Kern hatte gerade die 23. Schwangerschaftswoche hinter sich gebracht, als Jonas auf die Welt geholt werden musste. 590 Gramm wog er da und war nur 29 Zentimeter groß. „Er hat in meine Hand gepasst“, sagt Papa Marcel Kern.
Probleme schon in der Schwangerschaft: Wird er es schaffen?
Wird er es schaffen? Diese Frage stellte sich Nadine Kern tatsächlich schon in der Schwangerschaft. Dabei verlief bis zur 18. Schwangerschaftswoche alles problemlos, erzählt die Bottroperin. Dann wurde festgestellt, dass sich der Gebärmutterhals komplett verkürzt hatte, dazu kam eine Trichterbildung am Muttermund. Viel zu früh! „Mir war sofort klar, ich kann das Kind verlieren“, sagt Nadine Kern, und Tränen steigen ihr bei dem Gedanken daran in die Augen.
Ab ging’s ins Marienhospital Bottrop. „Ich musste liegen, liegen, liegen. Es ging rauf und runter mit der Trichterbildung.“ Der Chefarzt der Frauenklinik, Dr. Hans-Christian Kolberg, habe dann entschieden, dass sie einen Muttermundverschluss bekommt. Kurzzeitig durfte sie damit nach Hause, aber letztendlich ging’s zurück auf Station, wo Nadine Kern fünf Wochen nur noch liegen durfte; oftmals am Wehenhemmer. „Zu dem Zeitpunkt war das Kind noch nicht überlebensfähig.“ In der 23. Schwangerschaftswoche wurden zur Förderung der Lungenreife Spritzen gegeben.
„Am 15. März 2019 ist meine Fruchtblase geplatzt“, berichtet Nadine Kern weiter. „Dann ging alles rennend.“ Zum Notkaiserschnitt in den OP. Als Jonas auf die Welt kam, habe er geschrien – „zum Glück, da hat sich seine Lunge entfaltet“. Anschließend blieb der Kleine sieben Wochen lang intubiert und beatmet, weil die Lunge unterentwickelt war. Später brauchte er noch lange Sauerstoff.
Im Brutkasten auf der K2, der Neugeborenen-Intensivstation am Marienhospital, machte Jonas seine ersten, schwierigen Entwicklungsschritte. „Er hatte Hirnblutungen links und rechts. Das war so früh nach der Geburt, dass man nicht wusste, welche Schäden er zurückbehält. Zum Glück sind es ganz wenige“, sagt Nadine Kern, und wieder versagt ihr die Stimme. Der offene Ductus (die Verbindung zwischen Aorta und Lungenarterie) des Neugeborenen konnte medikamentös behandelt werden.
Später zeigte sich ein für Frühchen typisches Augenproblem (Fachbegriff RPM), das dank Jonas’ Teilnahme an einer experimentellen Studie mit einem damals noch nicht zugelassenen Medikament an der Uniklinik Essen aufgehalten werden konnte. Inzwischen war er für eine OP aufgrund einer Spastik auch schon bei einem Spezialisten in Barcelona.
Jonas: 117 Tage nach der Geburt im Krankenhaus
„Das Beste war für uns, dass wir nach vier Wochen mit Jonas Kangarooing machen konnten“, da sind sich Nadine und Marcel Kern einig. Dabei darf das Baby auf der nackten Brust seiner Mutter oder seines Vaters liegen. Nach 117 Tagen im Krankenhaus durfte Jonas – mit Heimmonitor zur Überwachung seiner Werte – nach Hause. Einen Tag vor seinem errechneten Geburtstermin, dem 11. Juli 2019. Zurückbehalten hat der Junge, der Bewegungs- und Sprachtherapie-Einheiten erhielt und erhält, eine Kurzsichtigkeit und eine leichte Spastik in den Beinen.
„Das ist ein echtes Wunder für das, was er hinter sich hat“, urteilt Kinderkrankenschwester Christiane Schönberger. Das Team der Klinik, betonen die Kerns, sei für sie wie eine Familie gewesen. Ihre Geschichte erzählt Familie Kern beim Treffen zum Weltfrühgeborenentag im Marienhospital in Bottrop. Dort werden pro Jahr 20 bis 30 extrem Frühgeborene versorgt, berichtet Sezgin Ata Oberarzt der Neonatalogie in der Kinderklinik. Zu diesen zählte vor 15 Jahren auch Tom, per Kaiserschnitt zur Welt geholt in der 28. Schwangerschaftswoche.
Tom: So klein, dass er mit einem Waschlappe zugedeckt wurde
Seine Eltern, Michael Plaschke und Katharina Woclawski, arbeiten selbst im Marienhospital. „Ich hatte noch Frühdienst und dann nachmittags einen ganz normalen Termin beim Gynäkologen“, erzählt die Bottroperin. Das war im September 2008; schon seit Juli waren leichte Durchblutungsstörungen festgestellt worden. Ihr Gynäkologe schickte sie zu Dr. Carsten Lehment, Leiter der Pränataldiagnostik am Marienhospital, zu einem speziellen Ultraschall. Und der wiederum ließ sie gar nicht mehr heim. An einem Dienstag war das. „Am Donnerstag musste Tom auf die Welt“, sagt Katharina Woclawski. Aus der Sorge heraus, dass er im Mutterleib nicht mehr gut versorgt wird. „Letztendlich hatte ich eine Plazentainsuffizienz.“
Tom kam auf die K2, im Inkubator, mit Beatmung, „mit allem Pipapo. Ich habe ihn an diesem Tag nicht gesehen“, Katharina Woclawski stockt die Stimme, die Erinnerung wühlt sie immer noch auf. Auch nach 15 Jahren. „Man wusste nicht: Schafft er es, kommt er da gut wieder raus.“
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Vater Michael Plaschke war mit im Kreißsaal. „Alles ging wahnsinnig schnell.“ Als er seinen Sohn zum ersten Mal sah, war dieser schon intubiert. Auf der K2 saß der Papa sofort am Inkubator. „Ich habe die Welt nicht verstanden.“ Auch Michael Plaschke ist immer noch spürbar erschüttert bei dem Gedanken an damals. „Selbst wenn man selber vom Fach ist sitzt man plötzlich da und weiß nicht was los ist. Man muss den Leuten vertrauen“, sagt der Krankenpfleger. „Ich bin heute dem Team der K2 und dem Ärzteteam unglaublich dankbar.“
Tom sei so klein gewesen; „er ist mit einem Waschlappen zugedeckt worden“. Und Toms Entwicklung? Sei bis auf einen heftigeren Rückschritt, bei dem der Kleine doch noch einmal intubiert werden musste, so gelaufen, wie von den Fachleuten vorhergesagt: „Es geht nach vorne. Es kann sein, dass Tom wieder zwei Schritte zurück macht, bis es dann wieder nach vorne geht.“ Anfangs hätten außerdem die Nieren nicht so mitgemacht, was Tom auf der Station den Spitznamen „Prinz Pipi“ einbrachte.
Krupphusten-Anfälle in den ersten Lebensjahren
Geboren am 25. September, konnten die Eltern Tom am 24. November mit nach Hause nehmen. Sein Geburtsgewicht von 1030 Gramm (wie wohl alle zu früh Geborenen verlor Tom nach der Geburt zunächst Gewicht) hatte das Frühchen da gut verdoppelt auf 2400 Gramm. Die Lunge blieb aufgrund der Frühgeburt zunächst angeschlagen, „in den ersten Jahren hatte Tom richtige Krupphusten-Anfälle“, aber das sei nun vorbei. Insgesamt hat Tom sich zwar vielleicht motorisch ein wenig langsamer als andere Kinder entwickelt – „er war immer ein gemütliches Kind“ -, brauchte aber keine speziellen Therapien.
Und was sagt Tom selbst zu seinem schweren Start ins Leben? „Ich denke nie darüber nach.“ Wohl das beste Zeichen für: Alles mehr als gut überstanden.
Carolin: Vom Frühchen zur Kinderkrankenschwester
Für das ehemalige Extremfrühchen Carolin Wunsch (21) ist das Thema Frühgeburt hingegen sehr präsent in ihrem Leben. Ein Tattoo auf ihrem Oberarm zeigt ein anatomisches Herz und das Datum des Weltfrühgeborenentages: 17.11. Zufällig – oder schicksalhaft? – ist genau dieser Tag auch ihr Geburtstag. Was sie weiß von diesem Tag vor 21 Jahren, ist dies: „Meine Mutter hatten einen Blasensprung. Es wurde ein Notkaiserschnitt gemacht.“ Das war in der 26. Schwangerschaftswoche. „Ich habe bei der Geburt 870 Gramm gewogen.“
In der ersten Zeit ihres Lebens begleiteten sie Krankengymnastik, Ergotherapie, „ich musste zum Botox-Spritzen“. Letztere kamen muskelentspannend zum Einsatz, weil Carolin eine leichte Spastik im rechten Fuß davon trug. Mit dieser gut zu leben, dabei hilft der jungen Frau vor allem ihr Judo-Training, erzählt sie.
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Oberarzt Sezgin Ata erinnert sich: „Carolin war ein Vorzeigefrühchen anfangs.“ Die Spastik zeigte sich erst später; auch das Schielen des rechten Auges. Ata: „Das muss nicht unbedingt mit der Frühgeburt zusammenhängen. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist bei Frühchen größer.“ Der Mediziner weiß auch noch genau, dass Carolins Mutter Birgit Wunsch der Kleinen immer Märchen vorgelesen habe. „Wenn Carolin die Stimme ihrer Mutter gehört hat, war sie entspannter und ihre Werte waren besser. Die Mutter kam sehr häufig.“ Was sich positiv auf die Entwicklung des Mädchens ausgewirkt habe.
Heute will Carolin selbst für schwer kranke Kinder da sein. Sie macht am MHB eine Ausbildung zur Pflegefachfrau mit dem Vertiefungseinsatz in der Pädiatrie. „Ich möchte mich später spezialisieren auf Kinderintensivpflege.“