Bottrop. Eine Bottroperin erzählt über ihr Leben mit einer psychischen Erkrankung. Heute kämpft sie mit dem Verein Promovere gegen Stigmatisierung.
„Ich habe mich falsch gefühlt.“ Schon in ihrer Schulzeit ist Esther, heute 44, an der Seele erkrankt. An Depressionen und einer Sozialphobie, lernte sie als Erwachsene. Doch als Jugendliche? „Ich habe das nicht verstanden und kam auch nicht in Behandlung.“ Stattdessen geriet die junge Frau in eine Abwärtsspirale, machte sich selbst Vorwürfe, isolierte sich völlig. Mit Anfang 40 erst fand sie Hilfe. Und heute kämpft Esther sogar für andere.
Beim Verein Promovere, der Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen begleitet und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unterstützt, ist Esther Betroffenensprecherin. Ehrenamtlich sitzt sie in verschiedenen Gremien. Und hauptberuflich macht die Bottroperin gerade eine Ausbildung – ihre erste überhaupt – zur „Ex-In-Genesungsbegleiterin“. „Hauptqualifikation dafür ist, dass man eine psychische Erkrankung hatte oder hat“, meint Esther. Als „Expertin aus Erfahrung“ wird sie andere Menschen beraten und begleiten.
Dass sie das jetzt kann, hätte sie sich wohl noch vor wenigen Jahren nicht im Ansatz vorstellen können. Aufgewachsen in einem „sehr schwermütigen Haushalt, von dem ich heute weiß, dass da auch Depressionen waren“, hat sie Abitur gemacht und ein Studium angefangen – „obwohl es mir schlecht ging“. Jura suchte sie sich aus, weil sie etwas bewirken wollte. Depressionen, Freudlosigkeit, soziale Ängste blieben, mixten sich mit Selbstvorwürfen und dem Gefühl, nicht hineinzupassen in die Jura-Studentenschar.
„Eines Tages konnte ich da nicht mehr hingehen und bin dann wochenlang nicht mehr rausgegangen“, sagt Esther. „Ich habe mich total isoliert, bei meinen Eltern.“ Mit der Folge, auch aus dem Sozialsystem rauszufallen. „Ich war dann insgesamt etwa 19 Jahre nicht krankenversichert, habe also auch nicht gearbeitet, habe dann aber Care-Arbeit zu Hause gemacht, als es etwas besser wurde. Bin aber noch immer nicht behandelt worden.“
„Ein großes Gefühl der absoluten Hoffnungslosigkeit“
Beherrscht wurde Esther in dieser Zeit von einem „großen Gefühl der absoluten Hoffnungslosigkeit“. Dennoch empfand sie ihre Situation irgendwie als logisch, denn „wer würde mich denn haben wollen?“
Als ihre Mutter sehr schwer erkrankte, wurde Esther ihre offizielle Pflegeperson, fand mit Hilfe ihres Bruders zurück ins Sozialsystem. Endlich wieder krankenversichert, suchte sie einige Monate später einen Arzt auf, auch aus einem Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Mutter heraus. Und das trotz ihrer Ängste vor Ärzten, vor Krankenhäusern, vor Keimen.
41 Jahre alt war Esther da, und bei der Untersuchung wurde auch eine schwere körperliche Erkrankung bei ihr festgestellt, eine innere Blutung über Jahre – „ohne Behandlung wäre ich gestorben“.
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Gleichzeitig erfuhr Esther beim Hausarzt, dass sie eine Sozialphobie haben könnte, „was mir eine große Erleichterung gegeben hat“. Im ersten Pandemie-Sommer ging sie ihre psychischen Beeinträchtigungen an, hatte das Glück, beim Erstgespräch auf eine „tolle Ärztin und Psychotherapeutin“ zu treffen, die sie behutsam davon überzeugt habe, Hilfen in Anspruch zu nehmen. Sie tat das zunächst in Form der psychiatrischen Institutsambulanz und von ambulanten Hilfen; ein Jahr später bekam sie einen Psychotherapieplatz. Sehr profitiert hat Esther vom Angebot des ambulant betreuten Wohnens.
Ihre persönliche Bewältigungsstrategie fasst die Bottroperin so zusammen: „Sprechen, sprechen, sprechen:“
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen erleben Stigmatisierung
Ein großes Thema für den Promovere e.V. und für Esther sind Teilhabe und Partizipation. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen sei die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben oft ein riesiges Problem. „Das fängt mit der Stigmatisierung an“, sagt Esther. So hat sie sich trotz aller erworbenen Stärke zum Beispiel sehr genau überlegt, dass sie ihre persönliche Geschichte in der Öffentlichkeit nicht mit ihrem kompletten Namen erzählen will, ihr Gesicht nicht dazu zeigen möchte. „Das hat damit zu tun, dass ich die Konsequenzen nicht absehen kann, wenn man mich so ergoogeln kann.“
Ihren Werdegang verstehe vielleicht nicht jeder. „Es kann ja gut sein, dass jemand denkt: Wie, die hat nicht gearbeitet? Die war nicht krankenversichert? Die hat im Bett gelegen oder hat Party gemacht!“ Nun: von wegen. „Genau das habe ich nicht getan. Als es recht gut lief, habe ich mehrfach in der Woche das Haus verlassen, um einkaufen zu gehen. Ich habe ja keine schönen Dinge unternommen, höchstens einmal mit meinem Bruder. Das war kein Spaß. Und das war sehr einsam.“
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Esther thematisiert zudem die – teilweise immer noch existierende – Haltung auch von Fachkräften psychisch Erkrankten gegenüber, die von einer Fürsorge geprägt ist, die Augenhöhe komplett vermissen lässt. Nach dem Motto: psychisch erkrankte Menschen können nicht für sich selbst entscheiden; sie muss man vor sich selbst schützen. „Leider gibt es diese Haltung noch, obwohl allein die Gesetzeslage sich seit rund 15 Jahren grundlegend geändert hat.“
Esther aber fordert eine Begleitung, die „Möglichkeitsfenster“ eröffnet, die Menschen in ihrem selbstbestimmten Leben unterstützt, sie befähigt. „Die Person, um die es geht, der psychisch erkrankte Mensch, entscheidet, wo er hin will“, unterstreicht die Bottroperin. „So habe ich selbst das erlebt.“ Und dass es grundsätzlich so läuft, auch bei anderen Betroffenen, dafür setzt sie sich ein.
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Heike Jandewerth, Geschäftsführerin des Promovere e.V., sagt: „Damit wir verstehen können, wo wir überhaupt ansetzen müssen, müssen wir erst einmal verstehen: Wo ist denn die Barriere überhaupt?“ Wenn man einen Rollstuhlfahrer vor einer Tür habe, dann könne man mit dem Augenmaß ermitteln, ob die möglicherweise zu schmale Türöffnung für ihn eine Barriere darstelle. „Bei psychisch kranken Menschen sind die Barrieren möglicherweise Atmosphären, Räume, Stimmungen, Menschen.“ Ganz individuell und unterschiedlich, deshalb plädiert Heike Jandewerth dafür, Betroffene immer wieder zu fragen.
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Esther kann Beispiele für oft unsichtbare Barrieren nennen, die die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausbremsen. Dazu gehört eine beängstigende Atmosphäre etwa bei Behörden oder in ärztlichen, sterilen Warteräumen. „Eine schlechte Beschilderung ist eine unglaubliche Barriere, wenn ich mich sowieso schon unsicher fühle“, berichtet Esther weiter. Heike Jandewerth plädiert insgesamt für eine menschenfreundlichere Atmosphäre, für ein besseres Bewusstsein dafür, „wie feinfühlig Menschen sind. Oft merken wir das erst, wenn die Menschen schon erkranken“.
Esther ergänzt: „Eine persönliche Barriere für mich ist, wenn ich den Eindruck habe, dass man mir nicht auf Augenhöhe begegnen möchte.“ Wenn ihr Gegenüber aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung gar nicht erst von ihr erwarte, dass sie intelligent reflektieren und diskutieren kann.
Früher fühlte Esther sich falsch. Und heute? „Ich bin überraschenderweise ein viel fröhlicherer und zuversichtlicherer Mensch als ich je gedacht habe. Ich habe mich sehr stark verändert offenbar. Ich fühle mich gut, bin allerdings auch sehr ehrgeizig mit einem Hang zum Perfektionismus. Tatsächlich sind die Ängste noch etwas, an dem ich arbeite, und der Riesen-Rattenschwanz an fehlenden Erfahrungen.“
Fachtag des Promovere e.V.
Der Promovere e.V. wurde 2021 durch Fachleute und selbst betroffene Bürgerinnen und Bürger gegründet. Ziel ist es, die gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Der Verein versteht sich „als Weggefährte für ein inklusives Miteinander“. Im März 2022 hat der Verein seine ambulanten Hilfen für psychisch erkrankte und seelisch beeinträchtigte Menschen aufgenommen.
Der Promovere e.V. veranstaltet an diesem Freitag, 20. Oktober, ab 9 Uhr einen Fachtag unter der Überschrift „Thinking within“ in Bottrop. „Mit unserem Fachtag möchten wir Anregungen und Anstöße anbieten, miteinander ins Gespräch zu kommen, neue Impulse und Möglichkeiten zu entdecken und zu verbinden – auf dem Weg zu einem inklusiven Miteinander“.
Workshops halten Jan Olthof (Psychotherapeut, Ausbilder und Supervisor des niederländischen Vereins für Familientherapie) und Seyda Buurmann-Kutsal (Diplom-Supervisorin, Coach und Lehrbeauftragte an der niederländischen Hochschule Fontys).
Die Schirmherrschaft hat Oberbürgermeister Bernd Tischler übernommen.
Kurzentschlossene können unter dieser Nummer anfragen, ob sie am Fachtag noch teilnehmen können: 02041 709 77 99