Bottrop. Statistisch gibt es in Bottrop eine Überversorgung mit Psychotherapeuten. Trotzdem warten Betroffene teils Jahre auf einen Therapieplatz.

Depressive Verstimmung, Antriebslosigkeit oder ein negatives Selbstbild sind Sorgen, die jeder mal haben kann. Wenn sie überhandnehmen, ist professionelle Hilfe gefragt. Wer aber in Bottrop einen Therapieplatz sucht, wartet darauf teils Jahre – obwohl statistisch eine „stabile Versorgung“ gekennzeichnet ist. Wie hängt das zusammen?

„Der Therapieplatzmangel resultiert nicht etwa aus einem Mangel an ausgebildeten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sondern daraus, dass nur eine bestimmte Anzahl dieser Therapeuten eine Zulassung im kassenärztlichen System bekommen, auch Kassensitz genannt“, erklärt Diplom-Psychologin Dr. Johanna Thünker, die selbst eine eigene Praxis in Kirchhellen hat.

Psychotherapie in Bottrop: Lange Wartezeiten trotz Überversorgung

Die Anzahl der Kassensitze resultiert aus einer Erhebung des Ist-Standes von 1999 – das Jahr, als Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen ins kassenärztliche System integriert wurden. Dieser Ist-Zustand wird immer wieder etwas angepasst, die eigentliche Bedarfsplanung hat sich aber nicht an dem orientiert, was wirklich nötig ist. „Wie viele Ärzte und Psychotherapeuten für eine Stadt benötigt werden, wird durch die Bedarfsplanung festgelegt“, sagt Stefan Kuster, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe.

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Im Ruhrgebiet wird davon ausgegangen, dass Nachbarstädte einen Teil der Versorgung übernehmen, so auch in Bottrop. Diese Idee geht aber nicht auf, da Nachbarstädte ebenfalls mit einer Unterversorgung kämpfen. Auf dem Papier steht geradezu eine Überversorgung geschrieben: Laut einer Übersicht der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (Stand Mai 2022) ist der Versorgungsgrad in Bottrop bei 119 Prozent. Ab einer Prozentzahl von 110 dürfen meist keine weiteren Niederlassungen für Ärzte vergeben werden. In Bottrop wäre noch eine Stelle für einen ärztlichen Psychotherapeuten frei: Derzeit gibt es in Bottrop 26 Psychotherapeuten.

In der Praxis herrscht Unterversorgung

In der Praxis sieht es aber ganz anders aus: Viele Patienten bei Dr. Thünker warten bis zu drei Jahre auf eine Psychotherapie, wenn diese in einem vierzehntägigen Rhythmus stattfindet. Allein auf ihrer Warteliste stehen 180 Patienten, die im bestenfalls noch in anderen Praxen gelistet sind. Eine große Hürde ist hierbei, erstmals den Kontakt herzustellen und ein Gesprächstermin zu bekommen, damit festgestellt werden kann, ob diese Person psychisch krank ist und einen Therapieplatz benötigt.

Zwischen diesem Zeitraum können laut der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer (BPtK) auch zwischen drei bis neun Monaten vergehen. Erst dann kann letztendlich mit einer Therapie begonnen werden. „Dass Bottrop jahrelang als die am schlechtesten versorgte Stadt überhaupt galt, liegt daran, dass die Rechnung mit der Mitversorgung umliegender Städte, für einen Ort, der am Rande der ,Sonderregion Ruhrgebiet’ liegt, besonders schlecht aufgeht“, stellt Dr. Thünker fest.

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„Gleich zu Beginn wurden viel zu wenige Psychotherapeuten zugelassen. Dadurch entstand ein chronisches Defizit. Es war schwierig genug, 1999 als Heilberuf anerkannt worden zu sein“, kritisiert Dr. Dietrich Munz, Präsident der BPtK. Beispielsweise hatte der Gesetzgeber 2400 Plätze mehr gefordert, aber nur 800 bewilligt bekommen: „Es rächt sich jetzt, dass die Krankenkassen seit Jahren die Zulassung einer ausreichenden Anzahl von psychotherapeutischen Praxen blockieren“, so Dr. Munz.

Corona und Krieg steigern die Anfragen bei Bottroper Psychotherapeuten

Die Coronapandemie hat die psychische Belastung in der Bevölkerung massiv erhöht. Besonders die zweite Coronawelle hat die Anfragen bei niedergelassenen Therapeuten in die Höhe schnellen lassen: Der Anteil an Psychotherapeuten, die mehr als zehn Anfragen die Woche erhielten, verdoppelte sich. Nur zehn Prozent der Anfragenden konnte innerhalb eines Monats einen Therapieplatz bekommen, über 40 Prozent warteten länger als sechs Monate, stellt eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, vom Januar 2021, fest.

Nicht nur Corona macht den Menschen zu schaffen, auch der Krieg oder steigende Lebenserhaltungskosten schüren Ängste: „Störungen, die vorher schon häufig waren, wie Depressionen und Ängste, sind jetzt noch häufiger, aber auch Menschen mit anderen Störungsbildern rufen häufiger an oder haben häufiger eine Verschlechterung ihrer Symptomatik erlebt“, so Dr. Johanna Thünker.

„Die Politik sollte das Leid psychisch kranken Mensch ernst nehmen“

Der Appell an die Politik lautet: Langfristig mehr Praxen und Kassensitze zulassen. Das Problem dabei sei das Geld, womit alle ambulanten Leistungen finanziert werden müssen. Sowohl Ärzte, die bereits im System sind, als auch Krankenkassen haben ein Interesse daran, keine neuen Therapeuten hineinströmen zu lassen, da niemand auf sein Geld verzichten möchte und somit letztendlich mehr Geld ausgegeben werden muss. „Den Bedarf zu bedienen ist eine ziemliche Herausforderung“, sagt Stefan Kuster von der KV.

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„Die Politik sollte endlich das Leid der psychisch kranken Menschen ernst nehmen. Insbesondere im stark unterversorgten Ruhrgebiet müssen erheblich mehr psychotherapeutische Praxen zugelassen werden, damit Menschen, bei denen in einer psychotherapeutischen Sprechstunde eine psychische Erkrankung festgestellt wurde, auch innerhalb von vier Wochen eine Behandlung aufnehmen können“, appelliert Dr. Dietrich Munz.

Anlaufstellen sind der Hausarzt, die Krankenkasse, die Terminservicestelle 116117 oder auf www.kvwl.de/arztsuche.