Bottrop/Gladbeck. In Bottrop/Gladbeck hat sich eine Selbsthilfegruppe für russischsprachige Eltern von Kindern mit Handicap gegründet. Das sind ihre Geschichten.

Sechs Eltern haben für den Bereich Bottrop-Gladbeck eine Selbsthilfegruppe für russischsprachige Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen gegründet. Sie stammen aus Georgien, Russland, Moldawien oder der Ukraine. Was sie verbindet? Sie können sich untereinander auf Russisch verständigen, und sie alle haben behinderte oder schwer kranke Angehörige.

Um sich gegenseitig zu unterstützen, gründen sie nun die erste Selbsthilfegruppe vor Ort. Dabei werden sie begleitet von zwei Koordinatorinnen, Elina Abou Chazz und Hanna Boiko. Elina Abou Chazz wohnt in Kirchhellen, ist gebürtige Russin und lebt schon seit 26 Jahren in Deutschland. Hanna Boiko kommt aus der Ukraine und hat jetzt mit ihrer Familie in Gladbeck eine Bleibe gefunden. Sie engagiert sich in der Selbsthilfe, weil sie eine achtjährige Tochter mit Down Syndrom hat.

Kirchhellenerin engagiert sich als Koordinatorin der Selbsthilfegruppe

Elina Abou Chazz betreut schon länger ehrenamtlich sechs ukrainische Familien, nun möchte sie als Koordinatorin für die erste Selbsthilfegruppe im Raum Bottrop-Gladbeck tätig sein. Die gelernte Diplom-Kauffrau hat Erfahrung im Umgang mit Behörden und der sozialen Landschaft in der Region. Und auf dieses Knowhow sind die Familien auch bitter angewiesen.

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Hanna Boiko (Organisatorin für Gladbeck) mit Oksana und ihrem Sohn Serhii (v.l.).
Hanna Boiko (Organisatorin für Gladbeck) mit Oksana und ihrem Sohn Serhii (v.l.). © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Olena zum Beispiel ist vor einem Jahr mit ihrer schwerbehinderten Tochter Anna aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. „Ich hatte zwei Stunden Zeit, das Notwendigste zu packen zum Bahnhof zu kommen. Danach begann die zwölfstündige Flucht nach Berlin. Zehn Erwachsene und Anna in ihrem Rollstuhl verbrachten die Zeit zusammengepfercht in einem Sechs-Personen-Abteil.“ Von Berlin aus ging es schließlich nach Bottrop. Da stand Olena zunächst vor dem Nichts. Der Antrag auf Sozialhilfe ist bis heute nicht abschließend beschieden. Olenas Schwester, die schon etwas länger im Ruhrgebiet lebt, leistete sprachlich erste Hilfe, aber für komplizierte Antragsformulare reichte das nicht aus.

Da kommt dann Elina Abou Chazz ins Spiel. Sie half zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Anna leidet seit ihrem ersten Lebensjahr an einer infantilen Zerebralparese und ist auf ständige Pflege angewiesen. In der Ukraine lebte sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter im fünften Stock eines Hauses ohne Aufzug. Also konnte sie das Haus nie verlassen. Kontakte außerhalb der Familie? Daran war fast gar nicht zu denken. „Jetzt leben Mutter und Tochter in einer kleinen, behindertengerechten Wohnung, und Anna genießt die Begegnung mit anderen Menschen sehr“, schildert Elina Abou Chazz die Entwicklung. „Trotzdem sind die täglichen Herausforderungen enorm. Die Krankenkasse übernimmt die Pflegekosten aktuell noch nicht, es kommt immer wieder zu sprachlichen Missverständnissen, sodass falsche Pflegehilfemittel verordnet werden.“

Während die Eltern sich austauschen, gibt’s Spielprogramm für die Kinder: Violetta, Kinderbetreuerin, mit Marianna, Katya und Alex (v.l.).
Während die Eltern sich austauschen, gibt’s Spielprogramm für die Kinder: Violetta, Kinderbetreuerin, mit Marianna, Katya und Alex (v.l.). © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Von solchen und ähnlichen Probleme können fast alle Familien berichten, die sich am Samstag in Gladbeck getroffen haben. Und genau da setzen die Selbsthilfegruppen des Vereins „Die Sputniks e.V.“, der bundesweit tätig ist, ein. Die Mitglieder tauschen sich bei ihren Treffen über Probleme und vor allem über Lösungsmöglichkeiten aus, aber sie teilen auch ihren Kummer und stehen sich in emotionalen Krisen bei.

Kinderbetreuung während der Selbsthilfezeit

Ein weiteres Plus der Selbsthilfegruppen: Parallel zum Treffen der Eltern werden die Kinder von einer ehrenamtlichen Volontärin in einer Spielgruppe betreut. Das macht den Kindern Spaß und schafft Freiraum und Entlastung für die Erwachsenen. Die Kosten der Selbsthilfearbeit, zum Beispiel Raummieten, werden meist vom Verband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) übernommen, spezielle Projekte können aber auch über Aktion Mensch beantragt werden.

Für die Kinderbetreuung während der Selbsthilfezeit ist auch Naira dankbar. Sie stammt aus Georgien und lebt mit ihren drei Kindern inzwischen in Grafenwald. Ihr ältester Sohn Rezi leidet an Tuberöse Sklerose. Das ist eine Erbkrankheit, die oft mit Tumoren in verschiedenen Organsystemen einhergeht und bei Rezi auch kognitiven Beeinträchtigungen mit sich bringt. Naira ist gelernte Konditorin, und obwohl bei drei kleinen Kindern im Moment an Berufstätigkeit nicht zu denken ist, hat sie es sich nicht nehmen lassen, das Premierentreffen der Selbsthilfegruppe „Sputnik Bottrop/Gladbeck“ mit selbst gebackenen Teilchen zu versüßen.

Naira stammt aus Georgien und lebt inzwischen mit ihren Kindern in Grafenwald.
Naira stammt aus Georgien und lebt inzwischen mit ihren Kindern in Grafenwald. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Für die 41-jährige Oksana aus der Ukraine ist die Rückkehr ins Arbeitsleben dagegen ein aktuelles Thema. Sie ist mit ihrem 22-jährigen geistig behinderten Sohn Serhii im letzten Sommer ins Ruhrgebiet gekommen und hofft, in ihrem erlernten Beruf als Krankenschwester arbeiten zu können, sobald Serhii einen Platz in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung findet.

Am Ende ziehen die beiden Koordinatorinnen des Treffens eine positive Bilanz, und Elina Abou Chazz spricht eine herzliche Einladung aus: „Alle betroffene Familien aus Gladbeck und Bottrop sind willkommen, und wir sind überzeugt, dass unsere Gruppe schnell wachsen wird. Natürlich können auch Eltern aus umliegenden Städten, in denen es noch keine selbstständigen Gruppen gibt, gerne teilnehmen.“

Interessierte können sich melden bei: bottrop@die-sputniks.de. Weitere Infos: www.die-Sputniks.de