Bottrop. Die ersten Flüchtlinge sind in die Bottroper Containerdörfer gezogen. Sie sind dankbar, aber auch voller Sorge. Ein Besuch und drei Schicksale.

Lidiia ist 1945 geboren, dem Jahr, in dem der Frieden wieder einzog in Europa, nach fünfeinhalb Jahren Weltkrieg und mehr als 60 Millionen Toten. Ob sie sich hätte vorstellen können, dass sie 77 Jahre später einen Angriff auf ihr Land erleben würde – bei dieser Frage beginnt die gebrechliche Dame mit gebeugtem Rücken und Kopftuch im Haar zu weinen, reibt sich die Augen. „Ich fühle, aber ich kann nicht in Worte fassen, wie“, gibt der Übersetzer ihre Worte ins Deutsche wieder.

Flüchtlinge in Bottrop: Über Polen bis nach Kirchhellen

Lidiia ist eine von 36 Flüchtlingen, die seit zwei Wochen im Containerdorf am Tollstock leben. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Winnyzja, einer Stadt so groß wie Bochum, knapp 275 Kilometer südwestlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dass es Krieg gibt in ihrem Land, hat sie lange Zeit nicht mitbekommen, so abgeschieden lebte sie. Aber nachdem sie eines Abends die Geschosse hörte, floh sie, abgeholt in einem Bus, einem sehr vollen Bus, wie sie betont.

Sie habe Angst gehabt, weil ihr keiner erklärte, wo es hinging. Waren das russische Soldaten, die sie verschleppten? Nein, es war die Rettung vor dem Krieg. Von der Westukraine brachte man sie, ihre Tochter, ihre Enkelin und ihre vier Urenkel mit dem Zug nach Polen, weiter nach Deutschland, schließlich nach Bottrop-Kirchhellen.

Mit blauen Bänken und bunten Blumen soll die Tristesse des Containerdorfs etwas aufgehübscht werden.
Mit blauen Bänken und bunten Blumen soll die Tristesse des Containerdorfs etwas aufgehübscht werden. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Hier hätten sie alles, was sie brauchten, genügend Platz, sagt die Urgroßmutter. Es ist zu eng, sagt die elfjährige Urenkelin Diana. Lidiia fühlt sich sicher, aber nicht wohl, will zurück in die Ukraine, wo die Männer der Familie geblieben sind und nicht viel erzählen. Lidiia glaubt, sie seien in Gefahr und erzählten deshalb nichts.

Stadt Bottrop hat früh die Unterbringung von Ukraine-Flüchtlingen geplant

Als eine der ersten Städte in der Region hat Bottrop auf den Zuzug der Flüchtlinge aus der Ukraine reagiert, hat schnell drei Standorte für Containerdörfer identifiziert, am Tollstock, an der Hans-Böckler-Straße und an der Schubertstraße. Alle drei sind nun bezogen, ein weiterer an der Körnerschule sowie einer in Grafenwald sollen folgen.

Bottrop hat bislang 590 Flüchtlinge aufgenommen, die Stadt erfüllt ihre Quote zu knapp 58 Prozent, hunderte könnten also noch über die Landeserstaufnahmeeinrichtung (Lea) zugewiesen werden. Manche kommen auch mit Hund, das teilt die Lea in Bochum mittlerweile vorab mit und Sachgebietsleiterin Rebecca Steinert ist froh, dass sie in zwei Unterkünften Haustiere erlauben dürfen und sie nicht mehr vorübergehend im Tierheim unterbringen müssen – ein wichtiger emotionaler Halt für viele Geflüchtete.

Platz für 48 Flüchtlinge am Tollstock in Kirchhellen

Hier in Kirchhellen ist Platz für 48 Menschen – und ihre Haustiere –, sie leben im Familienverbund in Doppel-Containern. Zwei Etagenbetten lassen im einen Zimmer wenig Platz für mehr, das andere ist Aufenthaltsraum, keine zehn Quadratmeter groß – beide mit Rollläden für ein wenig Privatsphäre.

Küche und Bad sind Gemeinschaftsräume, das ginge nicht anders wegen der Bauweise der Container, die auf dem leer gefegten Markt zur Verfügung standen, sagt Karen Alexius-Eifert, noch Sozialamtsleiterin und ab 1. Juli Sozialdezernentin. Tristes, beigefarbenes Blech umhüllt die Räume, vor einer Containerreihe haben sie bereits angefangen, ein wenig Atmosphäre zu schaffen, blaue Stühle und Bänke, rote, gelbe, lilafarbene Blumen. Die Bauzäune, die bislang den Platz umringen, sollen bald abgeholt werden.

Ukrainerin aus Kiewer Vorort: „Dankbar für alles, was wir hier haben“

Ludmila ist dankbar für den Raum, den ihr die Stadt hier gegeben hat. Die 47-Jährige kam mit ihrer Mutter und ihrem elfjährigen Sohn aus einem Vorort von Kiew, wollte zunächst nicht fliehen, weil ihre Mutter Olga schwer an Krebs erkrankt ist. Doch als sie eines Tages eine Bombe von ihrem Fenster aus explodieren sah, floh sie den Morgen darauf, mit dem Evakuierungszug in die Westukraine, weiter nach Deutschland.

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Jeden Tag telefoniert sie mit ihrem Bruder, der mit seiner Familie nicht das Land verlassen wollte, auch wenn er als Vater von vier Kindern nicht dienen müsste, will er sich nützlich machen in seiner Heimat. Sie sorgt sich um die Verwandten in der Heimat, ist gleichzeitig dankbar „für alles, was wir hier haben“.

Das Präparat, das ihre 71 Jahre alte Mutter gegen den Krebs nehmen muss, kostet in der Ukraine mehr als 1000 Euro. Hier bekommt sie es kostenlos. Ebenso wie die Sim-Karte von der Telekom, mit der sie in die Heimat telefoniert. Zunächst haben Ludmila und ihre Mutter auf dem Schmücker Hof gelebt; obwohl die Arzttermine ihrer Mutter drei, manchmal vier Stunden dauern, habe sie immer jemand begleitet. Ludmila lächelt: „Bis jetzt haben wir nur gute Leute getroffen.“

Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen ist groß in Kirchhellen

Das Containerdorf liegt mitten im Wohngebiet in Kirchhellen, daneben der Sport- und Bolzplatz, nicht weit die grünen Felder, über die man in die Kirchheller Heide gelangt. „Wir haben 2015 schon gute Erfahrungen mit den Kirchhellenern gemacht“, sagt Karen Alexius-Eifert. Die Hilfsbereitschaft sei groß, das Engagement rege. Koordiniert vom Deutschen Roten Kreuz organisieren Ehrenamtler Deutschkurse, sie unterstützen beim Kauf der Schulsachen für die Kinder, beim Gang zum Jobcenter, zur Krankenkasse.

Die Flüchtlinge bekommen die finanziellen Regelsätze für ihre Versorgung, kaufen selbst ein und kochen in der Gemeinschaftsküche, in der sich die Kochplatten reihen, Backöfen und große Spülen zur Verfügung stehen. „Es ist wichtig, dass sie sich selbst versorgen“, sagt die designierte Sozialdezernentin. „Das ist auch eine Form der Selbstbestimmung.“ Außerdem verlassen sie so den geschlossenen Raum der Flüchtlingsunterkunft, bekommen einen Bezug zur Umgebung.

Karen Alexius-Eifert leitet das Sozialamt, ab dem 1. Juli wird sie Sozialdezernentin.
Karen Alexius-Eifert leitet das Sozialamt, ab dem 1. Juli wird sie Sozialdezernentin. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Ukrainerin aus Charkiw: Drei Wochen in der U-Bahn Schutz gesucht

Im Küchen-Container riecht es nach angebratenem Hackfleisch. Eine junge Frau wäscht Salat, röstet Brot, die Burger-Patties in der Pfanne brutzeln in Öl. Am Tisch in der Mitte des Containers sitzt Liliya, sie hält ihr Handy in den Händen, die Fingernägel pink-glitzernd lackiert, genauso wie die Nägel der Füße in silbernen Schlappen.

Sie stammt aus dem ostukrainischen Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine mit eineinhalb Millionen Einwohnern, die massiv unter Beschuss steht. Jüngst hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den russischen Angriff auf Charkiw, die Bombardierung von Wohnvierteln, das Töten von hunderten Zivilisten als Kriegsverbrechen eingestuft.

Über Leipzig, Bochum, Bielefeld, Herford nach Kirchhellen

Liliya hat dort drei Wochen lang mit ihren Söhnen Nikita (13) und Alexey (11) in der U-Bahn Schutz vor den Bomben gesucht, bevor sie flohen. Erst an die ukrainisch-polnische Grenze, dann nach Leipzig, Bochum, Bielefeld, Herford, Kirchhellen. Die ganze übrige Familie ist in der Ukraine geblieben, ihr Mann kämpft nicht, darf das Land aber nicht verlassen. Wenn sie mit ihm spricht, hört sie die Bomben draußen explodieren. Er ist Konditor, aber Arbeit gibt es nicht, die Bäckerei öffnet einmal die Woche, weil für mehr kein Mehl da ist. „Es gibt keine Sozialhilfe, die Preise sind zu hoch“, sagt die 33-Jährige.

Auch sie ist voller Dankbarkeit für die Sicherheit im idyllischen Kirchhellen, auch wenn sie hier kaum Möbel hat bislang, die Container klein sind und sich massiv aufheizen in der Junisonne. Ihre Söhne haben Fahrräder geschenkt bekommen, Nikita, der 13-Jährige, lächelt, wenn er erzählt, dass er hier die Schule besuchen darf.

Seine Mutter hatte vergangene Woche Geburtstag. „Da habe ich mich sehr einsam gefühlt. Ich bin alleine und traurig.“