Bottrop. Ihre ukrainische Heimatstadt wird bombardiert. Ihr Sohn braucht lebensnotwendige Medikamente. Die Fluchtgeschichte der Familie Shcherbakov.

Ruslan ist ein tapferer Lebenskämpfer. Knapp vier Monate nach seiner Geburt wird bei ihm eine spinale Muskelatrophie diagnostiziert. Bestimmte Nervenzellen im Rückenmark sind geschädigt. Diese Zellen leiten Impulse an die Muskulatur weiter, die für Bewegungen wie Krabbeln oder Laufen zuständig sind. Experten geben ihm nur wenige Monate zu leben. Inzwischen ist er elf Jahre alt.

Für seine Eltern, Konstantin und Swetlana Shcherbakov, ist der Junge das größte Geschenk dieser Welt. Aber der Krieg in ihrer ukrainischen Heimat verändert alles. Sie müssen fliehen vor Putins Bombenhagel. Die Stadt Saporischschja, wo sie leben, ist Ziel der russischen Raketen. Vor vier Wochen beginnt ihre gefährliche Flucht. „Fast 1400 Kilometer durch die Ukraine“, wie Elina Abou Chazz berichtet. Die junge Frau aus Feldhausen ist Mitgründerin der Facebook-Gruppe „Hilfe aus Deutschland“ und kennt die Familie seit 2014. Damals wie heute geht es den Mitgliedern darum, schwerkranken Kindern mit spinaler Muskelatrophie aus Russland und der Ukraine zu helfen.

Ukrainischer Kleintransporter dient als Intensivstation

Denn an ein Gesundheitssystem wie in Deutschland ist in der Ukraine kaum zu denken. Die Finanzierung von Kathetern bis zum Beatmungsgerät, wie im Fall von Ruslan, erfolgt in Eigenregie und durch Spenden. „Dort muss alles privat gekauft werden“, sagt Elina Abou Chazz. Vor Ort war Swetlana Shcherbakov für die Facebook-Gruppe ein wichtiger Ansprechpartner. Über die Jahre hinweg entsteht zwischen den Frauen eine Freundschaft.

Seit vier Wochen ist die ukrainische Familie in Deutschland, seit knapp zwei Wochen in Kirchhellen. In einem Apartment eines Hotels sind sie in Sicherheit. Sechs Tage sind sie von Saporischschja unterwegs mit sechs Zwischenstopps. Und das alles in einem Transporter. Elina Abou Chazz nennt es „kleine Intensivstation“. Ruslan muss während der Fahrt liegen. Deshalb haben sie auf der Rückbank ein Bett befestigt. Neben ihm befinden sich die lebenswichtigen Medikamente und das Beatmungsgerät.

AKW Saporischschja ist in ihrer Heimatstadt

Cottbus ist ihre erste deutsche Station. Ab diesem Zeitpunkt werden sie von den Mitgliedern der Gruppe „Hilfe aus Deutschland“ betreut. Von dort geht es weiter nach Kassel, wo sie ein paar Tage bleiben. In der Zwischenzeit kümmert sich Elina Abou Chazz in Bottrop um die nötigen Behördengänge und startet einen Aufruf bei Facebook, ob jemand eine Unterkunft für die Familie zur Verfügung stellen könnte.

Elina Abou Chazz (2.v.l.), hier mit ihrem Sohn Alex, ist glücklich darüber, dass Konstantin und Swetlana Shcherbakov mit ihrem Sohn Ruslan in Kirchhellen eine Zuflucht gefunden haben.
Elina Abou Chazz (2.v.l.), hier mit ihrem Sohn Alex, ist glücklich darüber, dass Konstantin und Swetlana Shcherbakov mit ihrem Sohn Ruslan in Kirchhellen eine Zuflucht gefunden haben. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Ihr Hab und Gut muss die Familie zurücklassen. Mit Tränen in den Augen denkt Swetlana Shcherbakov an die letzten Tage in Saporischschja. Wenn die Sirenen heulten, verbarrikadierten sie die Fenster und machten das Licht aus. Immer mehr sorgten sie sich um die Gesundheit ihres Sohnes. In der Stadt befindet sich das größte Atomkraftwerk Europas. Anfang März wird diese Anlage von der russischen Armee beschossen. Ein Feuer bricht aus. Die Gegend rund um Saporischschja wird bombardiert. Immer wieder fällt der Strom aus. Aber ohne Strom funktionieren auch nicht die Beatmungsgeräte.

Dazu gibt es ein weiteres Problem: Ruslan ist auf ein wichtiges Medikament angewiesen, das in ihrer Heimat wegen des Krieges nicht mehr erhältlich ist. Konstantin und Swetlana Shcherbakov entschließen sich letztlich zur Flucht. Beide Omas von Ruslan sind dagegen in der Stadt geblieben. Täglich halten sie Kontakt nach Deutschland.

Familie sucht nun eine barrierefreie Wohnung

Die Familie ist glücklich und dankbar für so viel Unterstützung, die sie seit ihrer Ankunft erfährt. Ruslan geht es mittlerweile körperlich besser. „Er macht Fortschritte“, sagt Elina Abou Chazz. Er kann besser atmen, mit den Händen stärker zugreifen, lauter sprechen und Füße und Kopf mehr bewegen. Ihm hilft Risdiplam, eben jener wichtige Wirkstoff gegen spinale Muskelatrophie. Mehrere tausend Euro kostet das Medikament. Lebenslang muss er es einnehmen. Demnächst soll er an der Wirbelsäule operiert werden. Elina Abou Chazz hofft, dass er zusätzlich einen elektrischen Rollstuhl bekommen wird.

Die intensive Pflege ist inzwischen mit einem sozialen Dienst geregelt. Was die Familie aber bald dringend benötigt? Elina Abou Chazz: „Eine eigene, barrierefreie Wohnung in Kirchhellen.“

Hilfe für sechs Familien

Elina Abou Chazz ist gelernte Diplom-Kauffrau. Aktuell betreut sie ehrenamtlich sechs ukrainische Familien. Mit diesem Ehrenamt ist sie zurzeit vollends ausgelastet und möchte sich gerne dieser Betreuung künftig auch beruflich widmen.

Zum Beispiel kann sie als Dolmetscherin, sie spricht fließend russisch, oder als Familienbegleiterin für Ämter oder soziale Einrichtungen in Bottrop oder Kirchhellen arbeiten.

Die Familie Shcherbakov möchte sich an dieser Stelle bei einigen Menschen bedanken, die ihnen in Deutschland geholfen haben: Kathrin Gödecke, Barbara Fuchs, Ahmet Aktekin, Gerhard Korn, Christine Wagner-Behrendt und Prof. Bernd Wilken.