Bottrop. So viele Menschen wie nie haben 2022 in Bottrop die Kirche verlassen. Und der Trend geht weiter: Das Amtsgericht ist erstmal ausgebucht.

Schlechte Zeiten – vielleicht nicht für den christlichen Glauben – aber für dessen Institutionen. In Nordrhein-Westfalen dürfte die Austrittswelle aus beiden großen Kirchen im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht haben. Nachdem bereits zur Jahresmitte 110.000 Mitglieder offiziell ihren Austritt erklärt haben, wird sich die Zahl bis Ende Dezember noch einmal verdoppelt haben. Nach den gut 155.000 Austritten 2021 werden es nun über 200.000 Mitglieder sein, die die katholische Kirche oder die protestantischen Landeskirchen verlassen haben.

In Bottrop lässt sich eine ähnliche Tendenz beobachten. Waren es 2021 noch 870 Menschen, die einer der beiden Kirchen den Rücken kehrten, so kennt Eckhard Meierjohann, Direktor des Bottroper Amtsgerichts, die aktuellen Zahlen für das abgelaufenen Jahr: 1303. „Das waren Ende des zweiten Jahreshälfte sogar noch einige mehr, als im ersten Halbjahr 2022, als bis Juni 630 Mitglieder die beiden Kirchen verlassen haben“, so Meierjohann auf Anfrage.

Den genauen Anteil von Protestanten oder Katholiken könne er dabei nicht beziffern. „Aber angesichts des deutlich höheren Anteils von Katholiken an der Bottroper Gesamtbevölkerung wird auch deren absolute Zahl bei den Austritten deutlich höher liegen als bei der evangelischen Kirche“, vermutet der Jurist.

Auch die ersten Wochen im neuen Jahr lassen für Bottrop keine Wende erkennen

Und die Tendenz für das noch junge Jahr 2023 lässt bislang keine Wende erkennen. „Die Termine beim Amtsgericht sind bis März ausgebucht“, weiß Eckhard Meierjohann. In Kürze werde das nächste Quartal ab April freigeschaltet. Maximal neun Personen könne pro Tag in Bottrop austreten.

Im Durchschnitt werden für drei Tage in der Woche Termine angeboten. Das könne aber leicht variieren, zum Beispiel durch Feiertage. Aufs ganze Jahr betrachtet könnte also etwa 1400 Personen aus den Kirchen austreten – ein Limit, das aber noch nicht erreicht worden ist – bis jetzt zumindest.

Kirchenaustritt online ist nicht möglich - Experten raten zur sogar zur Vorsicht

Ein Austritt online ist nicht möglich, so der Amtsgerichtsdirektor. Auch das Online-Vergabesystem sei erst während der Corona-Pandemie freigeschaltet worden. „Für den Austritt selbst muss man persönlich erscheinen und auch die 30 Euro an Ort und Stelle beim Amtsgericht zahlen.“ Es gebe lediglich noch die Möglichkeit, den Kirchenaustritt über einen Notar erfolgen zu lassen und zwar „in öffentlich beglaubigter Form“. Dann müsse man sich zwar nicht persönlich um einen Termin kümmern und auch die 30 Euro beim Amtsgericht nicht zahlen.

Aber ob die Regelung mit Hilfe eines Notars am Ende günstiger ist, kann Eckhard Meierjohann dann auch nicht sagen. Vor Online-Portalen warnt er aber ausdrücklich, auch wenn Austrittswillige oft länger auf einen Termin warten müssten.

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Auch aus anderen Städten im Ruhrgebiet wird von zweifelhaften Portalen berichtet, die einen schnellen Kirchenaustritt online versprechen. Aber eine Online-Unterschrift reicht eben nicht. Der Austritt über ein Portal kann nur dann geschehen, wenn es die Identität des Antragstellers beglaubigen kann.

Über Gründe eines Kirchenaustritts erfahre man beim Amtsgericht Bottrop normalerweise nichts. „Dazu gibt es keine Gespräche, es geht lediglich um den formalen Akt“, so der Amtsgerichtsdirektor. Wer dorthin komme, sei sich seiner Meinung und des Anliegens größtenteils sicher. Man könne darüber lediglich Vermutungen anstellen, die sich aus der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion herleiten lassen, so Meierjohann. Zusammen gehörten Ende 2022 rund 68.800 Einwohner den beiden großen Konfessionen in Bottrop und Kirchhellen an. Im Jahr zuvor waren es rund 70.100 im Vergleich zu gut 47.200 Nichtchristen.

So reagieren die Kirchen in Bottrop auf die Entwicklung

Wie sehen beide Kirchen ihre Zukunft in der Stadt? Von Kaffeesatzlesen hält Lisa Krengel, Pfarrerin der evangelischen Gemeinde gar nichts. Man könne keine Prognose oder einen Trend nennen, auch wenn die gerade sehr hoch ist. Was kann an tun? „Wir nehmen jeden Austritt ernst, jeder und jede bekommt Post von der Gemeinde, wir versuchen, im Gespräch zu bleiben, wenn möglich auch etwas über die Hintergründe zu erfahren und informieren natürlich auch über mögliche Nachteile“, so die Theologin.

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Die reichten von Problemen bei der Übernahme von Patenschaften, bei einer kirchlichen Trauung oder Beerdigung. Kirchenmitgliedschaft sei vielleicht mehr als nur die Frage nach dem persönlichen Vorteil. Die Protestantin verweist aber auch auf die gesellschaftliche Funktion von Kirche im Sozialen, sei es nun im Bereich Kita oder Schule bis hin zu den unzähligen Beratungseinrichtungen, die alle kostenfrei in Anspruch nehmen können, aber von den Kirchenmitgliedern getragen werden.

Umgang mit Missbrauchsfällen ist immer noch ein Hauptgrund, die Kirche zu verlassen

Für Stadtdechant Jürgen Cleve, Propst an St. Cyriakus, ist der Austritt eine höchstpersönliche Entscheidung jedes oder jeder Einzelnen, die unbedingt zu respektieren sei. Natürlich beunruhigen den katholischen Priester die wieder gestiegenen Austrittszahlen. Soweit er es mitbekomme, sei es immer noch der Umgang mit den Fällen von sexuellem Missbrauch gerade in der Kirche und deren schleppende, zuweilen verschleppte Aufarbeitung.

Diese Taten schockierten immer noch und immer wieder gerade weil die Kirche selbst ja die moralische Hürden so hoch gelegt habe und so viele nicht entsprechend gehandelt haben. Ein sehr großer Vertrauensverlust. „Wir versuchen aber auch, mit Menschen, die ausgetreten sind, ins Gespräch zu kommen, in welcher Form, das sei individuell unterschiedlich“, so Cleve. Einen vorformulierten Brief an alle Ausgetretenen habe es seites der katholischen Gemeinden auch gegeben. „Aber der wird gerade überarbeitet, die bisherige Version erscheint uns nicht mehr hilfreich.“

„Es treten nicht mehr nur kirchenferne Menschen aus“

Neuer sei die Tendenz, dass nicht nur lange kirchenferne Menschen austreten, sondern auch solche, die den Kontakt nie ganz abgebrochen hätten. Da spielten neben den Missbrauchsfällen vermisste oder zu schleppende Strukturreformen eine Rolle, weiß der Priester. Auch er gibt aber zu bedenken, dass jeder Austritt auch zur Schwächung der sozialen und karitativen Bereiche in der Stadt führe, zur Auszehrung von Einrichtungen, die Kirche bis jetzt maßgeblich mittrage.

So blickt das Bistum Essen auf die Entwicklung

Auch im Bistum kennt man die Probleme von Entfremdung, Vertrauensverlust, die viele in und mit „ihrer Kirche erlebt haben“, so Thomas Rünker, ein Sprecher des Bistums Essen. Er war maßgeblich an einer Studie beteiligt, die das Phänomen Kirchenaustritte von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchtet hat. Es gehe auf allen Ebenen darum, Kontakte nicht abreißen zu lassen, was natürlich zunächst in den Gemeinden vor Ort am besten erfolgen kann. Es gibt natürlich Mittel wie das Magazin „Bene“, dass bistumsweit an alle Haushalte verteilt werde, Briefe und Kontaktversuche auf Gemeindeebene. Ob das den momentanen Trend umkehren können? Das wisse niemand, so Rünker. Aber herausstellen, was Kirche inhaltlich zu bieten habe, gerade in der heutigen Zeit, sei ebenso herausfordernd wie notwendig. Anderswo heißt das Kosten-Nutzen-Kalkül.