Bottrop. Der Bottroper Stadtdechant weiß von Kirchenmitgliedern, die aus Enttäuschung austreten. Das Amtsgericht verzeichnet 2021 wieder mehr Fälle.
Rekordzahl der Kirchaustritte in NRW: Über 155.000 Mitglieder haben 2021 der evangelischen und katholischen Kirche zumindest formell den Rücken gekehrt. Mehr als Bottrop Einwohner hat. Auch hier ist die Austrittszahl im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, auf 870. Damit verließen in Bottrop und Kirchhellen fast doppelt so viele Personen als noch 2020 (470) die Kirche, die sie nicht mehr als „ihre“ empfinden.
„2020 gab es eindeutig eine Coronadelle, Lockdown, der Umgang mit dem neuen Virus und seinen Folgen hat die Leute wohl mehr beschäftigt“, sagt Eckhard Meierjohann. Vergleiche man dies aber mit 2019, als es rund 700 Austritte (davon 505 Katholiken in ganz Bottrop) gab, relativiere sich die Zahl wieder: Die Tendenz im Jahr 2021 ist eindeutig steigend, so der Direktor des Amtsgerichts.
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68 Austrittsverfahren beim Bottroper Amtsgericht im Januar
Im Januar habe es bislang 68 Austrittsverfahren gegeben. Damit läge Bottrop dann etwa auf dem Niveau des Vorjahres - wenn es so bliebe. Für eine Tendenz sei es jedenfalls jetzt noch zu früh. Angesichts des Umgangs mit den Missbrauchsskandalen, aber auch der innerkirchlichen Kritik an der katholischen Kirche, müsse man abwarten, wie sich das im gesamten ersten Quartal bemerkbar mache. Es lägen bereits viele Terminbuchungen vor, von einem regelrechten „Run“ auf die Austrittsstelle will Meierjohann aber derzeit nicht sprechen. „Die wenigsten Menschen werden nach einem Zeitungsbericht oder der Tagesschau am nächsten Tag einen Austritttermin haben wollen.“
Eine exakte Zuordnung der Austritte nach Konfession und eine weitere Aufschlüsselung der Statistik von 2021 nach Taufen, Beerdigungen und weiteren Amtshandlungen wird es, wie in jedem Jahr, ohnehin erst im Sommer geben. Dann veröffentlichen beide großen Kirchen ihre analysierten Zahlen und dann wird auch Bottrops Religionskarte neu angepasst.
Fest steht schon jetzt: Von den 870 Austritten in Gesamt-Bottrop bei beiden Konfessionen entfielen im letzten Jahr 117 auf die katholische Großpfarrei Kirchhellen (Bistum Münster), wie Pfarrer Christoph Potowski von St. Johannes bereits veröffentlichte. Dort weiß man auch: Ungefähr 60 Prozent der Personen, die ausgetreten sind, gehören der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen an. Der Kirchhellener Geistliche schreibt alle Ausgetretenen persönlich an - und bekommt auch zahlreiche Rückmeldungen. Klassische Austrittsgründe seien nach wie vor Kirchensteuer oder Entfremdung von Glauben und Kirche. Die überwiegende Zahl der Rückmeldungen beträfen aber besonders die aktuellen Themen wie Missbrauchsskandal, Reformstau, Fragen nach der Rolle der Frau in der Kirche, dem Umgang mit Geschiedenen oder die Ausgrenzung homosexueller Menschen.
Diskussion um Münchener Missbrauchsgutachten wirft viele Fragen auf
Der Leitung des Bistums Essen, zu dem Alt-Bottrop gehört, ist es völlig klar, dass zum Beispiel die Diskussion über das Münchener Missbrauchsgutachten bei vielen Katholikinnen und Katholiken neue Fragen aufwirft und manche unsicher werden, ob die Kirche, zu denen sie oft schon seit vielen Jahren gehören, ihnen noch eine Heimat bietet, wie es jetzt in einer Stellungnahme angesichts einer drohenden neuen Austrittswelle heißt.
Für Alt-Bottrop spricht Stadtdechant Jürgen Cleve von mehreren Ebenen und Tendenzen bei den Austritten. Es gebe den „Sockel“ den es immer schon gab (Entfremdung, Kirchensteuer). Auf der zweiten Ebene sieht der Propst der Großpfarrei St. Cyriakus aber diejenigen, die sich wegen der aktuellen Skandale von de Kirche abwenden. Dazu könne er aber eine dritte Gruppe ausmachen: Die austreten obwohl sie eigentlich in der Kirche verwurzelt seien. Für sie sei der Austritt ein Akt der Verzweiflung, Enttäuschung und Hilferuf zugleich - weil sich sonst in ihrer Kirche gar nichts ändere.
Cleve ist weit entfernt davon, ein „Ranking“ der Gründe vorzunehmen. „Mit tut es um alle leid, die in der Kirche keine Heimat mehr finden.“ Aber bei der letzten Gruppe schmerze es ihn doch noch einmal mehr. „Ich verstehe das sogar, gerade in einer Stadt, in der es auch Missbrauchsfälle durch Priester gab, kann aber nur dafür plädieren, dabei zu bleiben, mitzumachen, auch, um etwas zu ändern.“ Dafür habe seines Erachtens die katholische Kirche auch genügend biblische und theologische Substanz.