Bottrop. Sie hat sich überreden lassen, ein Jahr dranzuhängen. Doch das ist nun um: Claudia Kretschmer verlässt die Evangelische Sozialberatung Bottrop.

Sie war das Gesicht der Bottroper Hilfe für Wohnungslose. Und sie ist eine der starken Frauen, die über Jahrzehnte die Sozialpolitik in Bottrop mitgestaltet haben. Nach 33 Jahren verlässt Claudia Kretschmer die Evangelische Sozialberatung (ESB) in den Ruhestand.

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Den Paradigmenwechsel in der Sozialarbeit hat Claudia Kretschmer in den bewegten 80er Jahren mitgebracht von der Uni, die damals noch Fachhochschule Dortmund und Gesamthochschule Essen hießen: Statt der klassischen Fürsorge für die Armen sollten Arbeitslose, Überschuldete, Wohnungslose und Einwanderer Perspektiven bekommen für einen Weg hinaus aus ihrer Notlage. In Bottrop wirkte damals ein Seelsorger, der das längst erkannt und in Projekte umgesetzt hatte: der 2016 verstorbene Diakoniepfarrer Hermann Schneider, der etwa mit dem Umbau des Rotthoffs Hofes in Kirchhellen maßgeblich die Eingliederungshilfe des Diakonischen Werkes weiterentwickelt hat.

Diakoniepfarrer Hermann Schneider holt sie 1989 aus dem Sozialamt

Schneider war es 1989 auch, der die Sozialarbeiterin Claudia Kretschmer vom Allgemeinen Sozialdienst der Stadt Bottrop zur Diakonie holte. Ein Wechsel, der im Bekanntenkreis Kopfschütteln auslöste, erinnert sich Claudia Kretschmer: „Ich stand schließlich 14 Tage vor der Verbeamtung auf Lebenszeit. Aber beim Wechsel war ich mir ganz sicher: Hier bin ich auf der richtigen Seite.“

In einem Team mit zweieinhalb Stellen und einem Zivildienstleistenden hat sie angefangen bei der ESB, mit einem hölzernen Karteikasten, der gerade mal 40 Fälle enthielt. Inzwischen ist die Zahl der Menschen, die sich an der Kirchhellener Straße 62a mangels einer eigenen Adresse gemeldet haben und in vielen Fällen dort auch ihr Geld verwalten lassen, auf mehr als 200 angestiegen. Und es werden wohl noch mehr, befürchtet Claudia Kretschmer mit Blick auf Energiekostenexplosion, Inflation und dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum: „Wir sind das letzte Auffangbecken für alle möglichen Probleme.“

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Um diese Probleme anzugehen, hat die ESB mit Unterstützung des Diakonischen Werkes mehrere Projekte angestoßen. Ein Leuchtturm, der weit hinaus strahlt in die Region, ist das 1993 gegründete „Restaurant der Herzen“ Kolüsch. Jeden Winter serviert ein Team aus Haupt- und vielen Ehrenamtlern mit breiter Unterstützung durch viele Spender im Barbaraheim ein warmes Mittagessen für Arme, Wohnungslose und Einsame. „Unser Restaurant der Herzen ist ein Zeichen gelebter Solidarität mit Armen und Wohnungslosen in Bottrop“, sagt Claudia Kretschmer - und strahlt dabei. Auch weil sie daran denkt, wie es ein Kolüsch-Team mit seinen „Dicken Bohnen mit Speck“ 2015 bei der WAZ-Aktion „Das isst der Pott“ bis ins Finale auf der Centro-Bühne in Oberhausen zu Starkoch Nelson Müller geschafft hat.

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Das Bottroper Team beim Finale der WAZ-Aktion „Das isst der Pott“ im August 2015 auf der Oberhausener Centro-Bühne mit Starkoch Nelson Müller (rechts).
Das Bottroper Team beim Finale der WAZ-Aktion „Das isst der Pott“ im August 2015 auf der Oberhausener Centro-Bühne mit Starkoch Nelson Müller (rechts). © Jakob Studnar

„Die Sozialgesetzgebung ist extrem kompliziert geworden“

Auf die Frage nach den größten Schwierigkeiten der letzten Jahre kommt die Antwort sofort: „Die Sozialgesetzgebung ist extrem kompliziert geworden. Hartz IV hat es keineswegs einfacher gemacht. Und beim Grundsatz Fördern und Fordern ist das Fördern leider hinten runtergefallen.“

Deshalb sind die Sozialberater der ESB zunehmend auch als Übersetzer gefragt, die den Menschen erklären müssen, was das Sozialamt oder das Jobcenter überhaupt von ihnen will: „Wir können ja beides: Klientensprache und Verwaltungsdeutsch.“ Wichtig sei auch die Vermittlerfunktion gegenüber den Vermietern. Allerdings sieht Claudia Kretschmer für ihre Klientel ein immer kleiner werdendes Nadelöhr auf dem Wohnungsmarkt: „Es gibt ja kaum noch Wohnungen, auf die wir Zugriff bekommen.“ Ein Problem, das die Sozialpolitik noch stärker in den Blick nehmen müsse. Claudia Kretschmer hat nie ein Problem damit gehabt, solche und andere Forderungen zu erheben: „Wir haben uns immer eingemischt.“

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An ihrem Ruhestand wird die bekennende Nachteule Kretschmer genießen, dass nicht mehr so früh der Wecker klingelt. Ein Griechenlandurlaub ist bereits fest eingeplant, ebenso wie Besuche bei der Verwandtschaft in den USA. Bottrop wird sie verbunden bleiben. Und da gibt es Pläne für ein niederschwelliges Beratungsangebot, das sie vielleicht noch mitgestalten wolle… Na dann: Auf Wiedersehen, Claudia Kretschmer!