Bottrop. Als 21-Jährige überlebte Hildegard Schöppner den großen Luftangriff auf Bottrop 1943 im Keller. Heute leidet sie mit den Opfern in der Ukraine.

Den 24. Februar 2022 wird Hildegard Schöppner nicht vergessen. Die Bottroperin denkt an ihre Tochter, die an diesem Tag 70 alt geworden wäre. Seit zwei Jahren ist sie tot. Krebs. Und sie sieht die ersten Bilder im Fernsehen vom Angriff Russlands auf die Ukraine und denkt: „Dass ich so etwas noch einmal erleben muss!“ Wenige Tage später feiert sie selbst ihren 100. Geburtstag. Hildegard Schöppner ist hellwach, verfolgt die Nachrichten, sieht die fortschreitende Zerstörung eines Landes, das grundlos überfallen wird. „Weil wieder ein Irrer an der Macht ist, den anscheinend keiner stoppen kann.“

Der gepflegten Dame, Spross der alten Bottroper Familie Mennekes, sieht man das hohe Alter nicht an. Im Gespräch zieht sie Parallelen zu ihrer Jugend, die sie bis auf ein hauswirtschaftliches Pflichtjahr auf dem Land in Bottrop verbringt. Propaganda, wie man sie heute aus Russland hört, kennt sie. Damals, 1939, heißt es „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“. So „begründet“ der Diktator damals den deutschen Angriff auf Polen. „Wir als junge Leute haben vieles damals gar nicht als Propaganda erkannt, es schien alles so normal, beinahe richtig“, erinnert sich die Zeitzeugin. „Das ganze Ausmaß haben wir erst später begriffen.“

Der Bottroper Altmarkt um 1930. Das Mädchen mit der Schürze in der Mitte ist Hildegard Schöppner, dahinter das Café ihre Onkels Leonhard Mennekes. Diese Häuser haben später den Krieg einigermaßen überstanden. Im Haus rechts wohnen Hildegards Eltern nach dem Krieg bis zum Abriss 1962.
Der Bottroper Altmarkt um 1930. Das Mädchen mit der Schürze in der Mitte ist Hildegard Schöppner, dahinter das Café ihre Onkels Leonhard Mennekes. Diese Häuser haben später den Krieg einigermaßen überstanden. Im Haus rechts wohnen Hildegards Eltern nach dem Krieg bis zum Abriss 1962. © Stadtarchiv

Sie wächst mit sieben von insgesamt zehn Geschwistern in Bottrops Altstadt auf. An der Horster Straße 3. Ihr Vater Bernhard Mennekes ist Malermeister. Gelernt hat er sein Handwerk beim Vater von Josef Albers. Onkel Leonhard betreibt das berühmte Café Mennekes am Altmarkt. In der Realschule hat sie eine Freundin, Martha Dortort. „Ihr Vater hatte ein bekanntes Möbelgeschäft - und die Familie war jüdisch. Bei der Einschulung 1932 hat das niemanden gestört“, erinnert sich Hildegard Schöppner.

Auch interessant

Kurz nach dem Abschluss hat sie das erste einschneidende Erlebnis mit Hass, Rassismus und Propaganda, die letztlich in den Krieg führten, von dem sie 1945 dachte, es wäre der letzte in Europa. „Ich traf Martha in der Stadt, sprach mit ihr und sie sagte: ,Das darfst du nicht’ und zeigte auf ihren Judenstern.“ In ihrem Pflichtjahr auf dem Land hatte sie von den zunehmenden Verfolgungen der jüdischen Deutschen seit 1938 nichts mitbekommen. Und dann sind die Dortorts auf einmal weg...

Im Keller dieses Hauses an der Horster Straße 3 überlebte Hildegard Schöppner den großen Bombenangriff vom März 1943. Das Wohnhaus wurde völlig zerstört.
Im Keller dieses Hauses an der Horster Straße 3 überlebte Hildegard Schöppner den großen Bombenangriff vom März 1943. Das Wohnhaus wurde völlig zerstört. © Repro: DA | Schöppner

Auch diese Tragödie, die Verbrechen, werden der überzeugt katholischen Familie erst spät klar. Anfangs scheint der Krieg weit weg. „Ich merkte nur, dass auf der Orgelempore in St. Cyriakus auf einmal viel Platz war - die Sänger waren fast alle eingezogen.“ Dann kommen die großen Luftangriffe. Im März 1943 ist es besonders schlimm. „Damals ging unser Haus in Flammen auf, wir saßen im Keller, als ich herausblickte, war oben unser Haus weg, genauso wie das alte Althoff-Gebäude und große Teile der Altstadt“, erinnert sich Hildegard Schöppner.

Hildegard Schöppner (geb. Mennekes) vor einiger Zeit bei den Familienforschern im Malakoffturm.
Hildegard Schöppner (geb. Mennekes) vor einiger Zeit bei den Familienforschern im Malakoffturm. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Die Luftschutzbilder aus dem Osten Europas heute im Fernsehen erinnern sie wieder an damals. Wie oft sie im alten Rathauskeller Schutz gesucht hat, kann Hildegard Schöppner gar nicht zählen. Auch ihr damaliger Chef, ein Zahnarzt am Ostring, bei dem sie als Sprechstundenhilfe arbeitet, kommt bei dem großen Bombenangriff ums Leben.

„Tut der Westen nichts, schnappt sich Putin auch andere Länder in Osteuropa“

Als jüngst Russland seine Angriffe auf die großen Städte bis hin zur West-Ukraine ausweitet, kommt all das wieder hoch. „Nach dem unser Haus weg war, zogen wir in die Wohnung eines Finanzbeamten, der ins alte Lemberg, das heutige Lwiw, versetzt worden war.“

Die Familie kennt daher die schöne Stadt und ihr Schicksal, in dem auch damals Nazi-Deutschland eine ungute Rolle spielt. „Jeder, der nur ein wenig von der Geschichte weiß und dieses Leid dort und in der ganzen Ukraine heute wieder sieht, müsste eigentlich in Tränen ausbrechen, Scham und Reue spüren und vor allem dieses Unrecht dort versuchen zu stoppen!“ Wie, das kann Hildegard Schöppner auch nicht sagen. Es sei eine Zwickmühle. „Greifen wir ein, gibt es einen großen Krieg.“ Davon ist die 100-Jährige überzeugt. Tue Europa und der Westen nichts, schnappe sich Putin sicher auch andere Länder in Osteuropa. Hoffentlich wiederholt sich Geschichte nicht.