Bottrop. Paula Schnabel eröffnete das Büdchen an der Gladbecker Straße, half dort bis ins Alter von 89 Jahren mit. Zweite Generation führt Tradition fort.

Die langen Reihen der bunt gefüllten Bonbongläser hinter der Trinkhallen-Scheibe sind eine Verlockung. Eine gemischte Tüte, die wird bei Annette Schnabel (55) am Kiosk an der Ecke Gladbecker Straße/Schubertstraße in Bottrop immer noch gerne gekauft – und zwar nicht nur von Kindern. „Das hat sich nicht verändert“, bestätigt ihre Schwester Barbara Mag (51). Vieles andere aber schon. Immerhin betreibt die Familie den Kiosk seit 60 Jahren.

Paula Schnabel hat das Büdchen eröffnet

Ein Foto aus den Anfangsjahren. Die Familie hat Schnappschüsse aus vielen Jahren in einem Album gesammelt.
Ein Foto aus den Anfangsjahren. Die Familie hat Schnappschüsse aus vielen Jahren in einem Album gesammelt. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Die Initiative ergriffen habe damals Mutter Paula Schnabel. „Mein Bruder war zu der Zeit fünf Jahre alt und es wurde ihr wohl ein bisschen zu langweilig“, meint Annette Schnabel mit einem Lächeln. Denn bevor die heute 90-Jährige Paula Schnabel Mutter wurde, habe sie in einem Radio-TV-Geschäft in Bottrop gelernt. „Sie sind dann damals hier vorbei gefahren, und sie hat zu meinem Vater gesagt: Sieht aus, als würde das eine Trinkhalle werden“, erzählt Annette Schnabel weiter. Man habe den Hausbesitzer gekannt, sich beworben – und den Zuschlag zum Betrieb der Trinkhalle bekommen.

Wohnung schließt sich an Verkaufsraum an

Direkt an den rund 30 Quadratmeter großen Verkaufsraum schließt sich in dem Eckhaus eine Wohnung an, in die die Familie einzog. Die Geschwister haben ihre Kindheit dort verbracht, berichtet Barbara Mag: „Wir haben hier gelebt, bis ich elf Jahre alt war. Unsere Oma hatte oben noch eine Wohnung, dahin wurden meine Schwester und ich dann ausquartiert.“ Später sei ein Haus gekauft worden.

Schreib- und Spielwarenladen nebenan

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Neben der Trinkhalle betrieb Paula Schnabel zeitweise auch noch einen Schreib- und Spielwarenladen direkt nebenan, „dort habe ich auch meine Lehre gemacht“, so Annette Schnabel. Familienleben und Arbeit waren so eng miteinander verwoben. „Der Nachteil: Man hat nie Feierabend, immer schellt es“, erinnert sich Barbara Mag. Und zwar auch nach den sowieso schon langen Öffnungszeiten. „Mein Vater hat abends um halb elf noch die Jalousie wieder hochgezogen.“ Die Kunden wussten, dass sie auch spät zum Beispiel noch Schulhefte bekommen konnten. Doch das Ganze hatte für die Kinder auch Vorteile: „Die Familie war immer da.“

Grundsätzlich aber ist das Geschäft heute nicht mehr mit dem aus vergangenen Zeiten zu vergleichen, „als es etwa die Zechen noch gab“, sagt Annette Schnabel. Früher hätten zum Beispiel noch Gläser mit Rollmöpsen am Schalter gestanden, „für die Leute, die von der Zeche kamen“. Lebensmittel waren überhaupt ein größeres Thema und auch Zeitschriften. „Die Geschäfte hatten ja nicht so lange geöffnet. Da haben die Leute hier gekauft, was sie noch vergessen hatten.“ Heute würden am Kiosk hauptsächlich Tabakwaren verlangt.

Geöffnet von 5 bis 22 Uhr

Aktuell öffnet sie immer noch von 5 bis 22 Uhr – außer an Wochenenden, Sonn- und Feiertagen – und kennt ihre Kunden bestens. Als es mitten im Interview am Kiosk-Fenster klingelt, braucht sie den Kunden nur zu sehen um wortlos zu wissen: Jetzt ist ein Energydrink gefragt. Die Hundebesitzerin weiß es zu schätzen, ihre Tierliebe mit ihrer Selbstständigkeit verbinden zu können. „Einmal hatte ich ein Pony, das hat hier Lakritzschnecken bekommen.“

Die 55-Jährige, die wie ihre Geschwister früher natürlich am Büdchen aushalf, stieg 1996 komplett ins Trinkhallengeschäft ein, als ihr inzwischen verstorbenen Vater Walter krank wurde. „Ich habe mich hier immer wohl und zu Hause gefühlt.“ Bis zum März, also bis ins Alter von knapp 90 Jahren, stand auch noch Familienoberhaupt Paula Schnabel in der Trinkhalle. „Sie hat morgens noch die Kunden bedient, und ich konnte einkaufen fahren.“ Doch ein Schlaganfall warf die bis dahin fitte Seniorin aus der Bahn; aktuell unterstützen eine Aushilfe – „eine ehemalige Auszubildende aus dem Schreibwarengeschäft“ – und Bruder Norbert beim Verkauf.

Besondere Verbundenheit zwischen Kundschaft und Familie

„Das Besondere hier ist die Verbundenheit der Kundschaft mit der Familie“, betont Barbara Mag. „Viele fragen nach Mutter.“ Zu deren 90. Geburtstag im Juli hätten die Kunden sogar gesammelt und manche besuchten sie, die mit ihrer Tochter Annette neben der Trinkhalle wohnt, auch. Soweit die Corona-Pandemie das zulässt.

Die hatte im März auch dafür gesorgt, dass die Trinkhallen durchweg schließen mussten. „Zum Glück nicht für lange“, so Annette Schnabel. Aber auch Absperrungen vor der Tür, vor allem in Kombination mit fehlenden Parkplätzen, merke sie sofort am Geschäft. Das aber andererseits durch seine gute Lage an einer Hauptstraße punkten kann. „Jeder ist hier schon einmal vorbei gekommen!“

Und wie haben sie und ihre Geschwister als Kinder die Verlockung durch die Bonbongläser empfunden? „Wir mussten immer fragen, bevor wir uns etwas nehmen durften“, sagt Annette Schnabel. „Aber es war halt normal.“

Kult im Revier

Büdchen sind im Ruhrgebiet Kult. Deshalb hat die Ruhr Tourismus GmbH auch schon den Tag der Trinkhallen ausgerufen. Demnach war der Höhepunkt des Trinkhallenbooms 1960 erreicht.

„Mit dem Rückzug der Schwerindustrie schlossen auch die Trinkhallen in der Nähe der Werke“, heißt es unter der Überschrift „Mythos Trinkhalle“ bei der Ruhr Tourismus GmbH. Es gebe heute noch etwa 8000 Büdchen.